Natürlich weiss ich: man wählt immer. Und es gibt im Grunde der Dinge keine Ausreden. Vor allem kann man sich nicht hinter sog. Sachzwängen verstecken. Es gibt, objektiv gesehen, nur einen einzigen, valablen Sachzwang: den Tod. Alles andere will gestaltet werden.
Sonntag, 10. Juli 2011
Eine neue Woche
Eigentlich weiss ich schon jetzt genau, was ich nächste Woche tun und lassen werde. Mein Alltag ist gewissermassen vorprogrammiert, Raum für Überraschungen wird es kaum geben. Es gab Zeiten, da wünschte ich mir einen solchen Zustand herbei, weil er wohl zu beruhigen scheint. Jetzt hingegen beunruhigt es mich vielmehr, Teil einer Maschinerie zu sein - einer selbst gewählten, wohlverstanden. Womit ich wieder beim Thema des inneren Gefängnisses wäre.
Dunkle Wolken

Bald wird es bei uns ein Gewitter geben.
Dunkle Wolken, Ruhe vor dem Sturm.
Zeit, um zu basteln.
Zeit, um mit der Tochter zu Hause zu spielen.
Nachmittags Kino in der Stadt.
Herumhängen.
Musik hören
Musizieren.
Herumblödeln.
Kochen.
Da, die ersten Blitze.
Der Donner folgt, ich zähle die Sekunden zwischen dem Blitz und dem Donner - das Gewitter ist nicht weit weg.
Reinigendes Gewitter, auch für die Seele.
Nichts wäre langweiliger als ewig blauer Himmel.
Die Züpfe
Mit Schwung stehe ich auf und bereite das Morgenessen vor.
Die Züpfe garantiert einen guten Start in den Sonntag. Ohne sie kann ich mir einen Sonntagmorgen nur schlecht vorstellen. Mit ihr ist die Welt noch in Ordnung. Züpfe gab es schon zu Gotthelfs Zeiten, und Züpfe wird es auch in hundert Jahren noch geben. Die einzelnen Stücke sind nicht zu dünn zu schneiden, belegt werden sie mit Butter, Konfitüre oder Honig. Einfach unwiderstehlich.
Kleine Rituale erleichtern das Leben, machen es farbiger, berechenbarer, erträglicher.
Samstag, 9. Juli 2011
Sex
Vermutlich wäre das Leben einfacher, hätte man keinen Sexualtrieb. Die Omnipräsenz des Sexuellen im Alltag (Medien, Werbung, auf der Gasse etc.) macht mich gelegentlich müde, manchmal gereizt. Wohlverstanden: ich spreche nicht von Sinnlichkeit, sondern von Sex, was selbstredend nicht dasselbe nicht.
Ohne Sexualtrieb ginge man wohl ungetrübter durchs Leben. Doch ist eine Welt ohne die Existenz von Trieben überhaupt denkbar? Für das Kollektiv bestimmt nicht, wohl aber für einzelne Individuen. Viele kennen zeitlich limitierte Phasen der Asexualität. Als ich solche Phasen durchlief, war ich, glaube ich, nicht traurig. War ich auch glücklicher, produktiver, kreativer? Die Frage muss ich offen lassen.
Nachtrag: Sex - ohne uns! Ein lesenswerter Artikel aus Zeit-Online
Nur damit keine Missverständnisse entstehen: ich gehöre definitiv nicht dieser Gruppe an.
Nur manchmal :-)
Übung, im Hier und Jetzt zu sein
Heute ein weiterer Selbstversuch, ganz in der Gegenwart zu sein.
Nachmittags beim Baden ist mir dies recht gut gelungen. Im Wellenbad konnte ich alles um mich herum vergessen, später dann beim Ballspiel mit meiner Tochter ebenso. Plötzlich tauchen sie aber wieder auf, die Gespenster aus der Vergangenheit, einer Verfolgung gleich, selbstverständlich unangemeldet und forsch. Nicht immer müssen die Bilder aber negativ besetzt sein, es können auch gute Erinnerungen wachgerüttelt werden.
Im Freibad, wo ich heute war, war ich dort bereits als kleiner Bub. Urplötzlich sah ich den kleinen Jungen, wie er oben auf dem Sprungbrett steht und einen Kopfsprung wagt. Ich sah ihn herumrennen, mit seinem Vater spielen. Dann holt mich die Gegenwart wieder ein, die Tochter will weiter spielen, wo ich doch gerade gedankenversunken im Bassin stehe und beinahe ins Grübeln gerate.
Gegenwart und Vergangenheit lassen sich natürlich nicht strikt voneinander trennen. Sie sind vielmehr kommunizierende Röhren, denn die Gegenwart ist nichts anderes als entwickelte Vergangenheit. Die Forderung, mental ganz im Hier und Jetzt zu sein, kennt dennoch keine überzeugende Alternative.
Freitag, 8. Juli 2011
Oeil de Perdrix - kühl serviert und getrunken

Zuviel.
Oeil de Perdrix, ein Roséwein aus dem Wallis.
Kühl serviert, wie es sein muss.
Einfach köstlich.
Dazu ein kleines Filet an einer vorzüglichen Rahmsauce, ganz nach dem Motto: man gönnt sich ja sonst nichts.
Manchmal tut es mir einfach gut, über die Stränge zu schlagen.
Das geschieht selten, und es muss auch nicht oft geschehen.
Und dann vergesse ich für einen Augenblick alles, was mich beschäftigt.
Dann sehe ich alles bunter, optimistischer, leichter.
Welch ein Trugschluss.
Aber manchmal tut es einfach gut, sich selbst zu belügen.
Den Saft dieser wunderbaren Trauben zu geniessen.
Über Gott und die Welt zu fabulieren.
Dann möchte ich mir nur noch das ganze pure Leben einverleiben.
Und nur noch spüren, lieben, vergessen.
Grenzenlos sein - für einen Augenblick lang.
Und vor allem:
die Vergänglichkeit verdrängen.
den Tod verachten.
Ich weiss, dass dies nicht klug ist - und schon gar nicht weise.
Aber ich will und ich kann nicht immer klug und besonnen durch die Welt marschieren.
Ich muss ab und zu Grenzen sprengen, unvernünftig sein.
Und sei es bloss für einen kleinen Moment an einem Freitagabend.
Ankunft und Abschied
Heute ist bei uns der letzte Schultag, die Sommerferien beginnen am Montag. Mitte August gehen dann die Kinder in die nächst höheren Klassen. Wie schnell doch ein Schuljahr vorüber geht...
Ankunft und Abschied und damit Loslassenkönnen, ein Leben lang.
Zwischen diesen beiden Polen leben wir unser Leben und blenden dabei die Gesetzmässigkeit dieses ewigen Fliessens allzu oft aus. Stattdessen wollen wir uns lieber an vermeintliche Felsen (Liebe? Ehe? Partnerschaft? Freundschaft? Status? Geld? Ruhm? Tradition?) festhalten.
Weil es halt beruhigt.
Haydn hat bekanntlich eine Abschiedssymphonie komponiert. Im 4. Satz verlassen die Musikerinnen und Musiker sukzessive das Orchester, am Schluss bleibt nur noch der verdutzte Dirigent übrig und steht verloren vor leeren Rängen.
Ankunft und Abschied - Loslassenkönnen, ein Leben lang.
Die nachfolgende Aufführung des erwähnten 4. Satzes aus Haydns Abschiedssymphonie mit Daniel Barenboim ist an Witz und Ironie nicht zu überbieten. Wenn ich wieder einmal Mühe habe mit dem Loslassenkönnen, so werde ich Haydn auflegen und mitsummen - möglichst heiter und augenzwinkernd.
Donnerstag, 7. Juli 2011
Stadtschloss Berlin

Seit rund 25 Jahren gehe ich regelmässig nach Berlin. In Berlin-Mitte kann ich mich stundenlang ziellos auf die Beine machen, um mal hier, mal dort zu landen und mich überraschen zu lassen. Im Prenzlauer Berg mag ich die vielen originellen Einrichtungen, die Parkanlagen, die Beizen und die Galerien. Ich mag Berlin, gerade weil die Stadt offene Wunden hat, mit denen sie, so mein Empfinden, zumindest bisher gut umgeht. Berlin ist nicht "nett" wie Paris oder Wien. Berlin ist ein grosses, weites Dorf, das gerne (wieder) Weltstadt sein möchte und uns immer wieder herausfordert - kulturell und in jedem Fall historisch.
Den Beschluss, das Stadtschloss wieder aufzubauen, finde ich eine kolossale Fehlentscheidung. Ich erkenne darin eine Tendenz, die Geschichte zu revidieren und die historischen Geschehnisse schleichend aus dem Stadtbild zu vertilgen. Letztlich läuft es darauf hinaus, so zu tun, als hätte es gewisse historische Phasen nie gegeben, stattdessen wird eine historische Kontinuität vorgegaukelt, die es so nie gab. Vielmehr gab es zahlreiche Brüche nicht nur in historischer, sondern auch in städtebaulicher Hinsicht. Berlin wurde bekanntlich von Katastrophen aller Art heimgesucht. Diese sichtbar zu machen und sichtbar zu lassen (!) ist historisches Gebot der heutigen und zukünftigen Generationen.
Was soll dieser Beschluss? Geht es darum, das, was -wem auch immer- missfällt, aus dem kollektiven Bewusstsein zu verbannen oder museal zu entsorgen?
Ich mag barocke Schlösser sehr - aber bitte nur im Original.
Mittwoch, 6. Juli 2011
Distanziert
Heute beim Mittagessen mit meinen Kollegen: ich trage eine Maske, ich gebe mich nicht wirklich zu erkennen - warum sollte ich denn auch ein offenes Buch sein? Und ich diskutiere auch über Dinge, die mich im Grunde der Dinge langweilen. Aber trotzdem ist es eine fröhliche, ausgelassene Runde.
So ist es: ich brauche Distanz, dies nicht nur beim Essen mit Kollegen.
Distanz allein ermöglicht Nähe und damit auch Vertrauen.
Dienstag, 5. Juli 2011
Unser inneres Gefängnis

Die Gitterstäbe sind von innen rosa angestrichen.
Sie vermitteln vermeintliche materielle und/oder emotionale Sicherheit.
Sie machen autonome Entscheidungen überflüssig.
Sie rauben dem Menschen die Verantwortung für sein eigenes Leben.
Wer sein selbst gebautes Gefängnis kennt und lange darin gelebt hat,
fürchtet sich naheliegenderweise vor der Freiheit.
Modernes Sklaventum kann beruhigen - doch zu welchem Preis?
Nachtrag
Nein, die Gitterstäbe müssen nicht zwingend rosa angestrichen sein. Sie können auch grau sein: man ist sich seines Gefängnisses sehr wohl bewusst. Eine warme Zelle mag attraktiver sein als die als bedrohlich wahrgenommene Welt draussen.
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.
Immanuel Kant
Montag, 4. Juli 2011
Im Juli
Der Monat Juli ist ein sonderbarer Monat, jedenfalls empfinde ich ihn so. Viele haben unglaubliche Erwartungen an diesen Monat, wollen ständig auf Trab sein, wollen die Nacht zum Tag machen, wollen "etwas erleben", wollen möglichst hohe Luft- und Wassertemperaturen haben, wollen rein ins Wasser und nicht mehr raus, wollen Parties feiern und dies möglichst laut (damit alle hören, wie gut sie es doch haben). Ständig sehen sie sich genötigt, Grillabende zu organisieren. Auch Openairs und Seenachtsfeste gehören zum festen Ritual der Sommeranbeter: das ganze Land als einzige Festhütte.
Ich habe nichts gegen Grillabende einzuwenden, im Gegenteil, und Openairs mag ich auch. Aber ich mag diesen permanenten Rummel nicht, dieses Lechzen nach Hitze und Massenveranstaltungen, nach Feuerwerk und Ghettoblaser. Wie wäre es demgegenüber mit etwas mehr Beschaulichkeit, mehr Gelassenheit, ja Nüchternheit? Vermutlich haben meine Fragen auch etwas mit dem Alter zu tun.
Schlaflos
Wahrheit kann man nicht beschreiben
nur erfinden.
Max Frisch
Ich stelle mir vor:
Er liegt hellwach im Bett, es ist Freitagnacht, die Uhr zeigt exakt 0340 Uhr. Er schaut zum Fenster hinaus und sieht die prächtige Bergkette, die bald von den ersten Sonnenstrahlen gestreichelt wird. Er will schlafen, aber es hat keinen Sinn, gegen die Schlaflosigkeit antreten zu wollen, er wäre ohnehin der Verlierer. Er flüchtet aus dem Bett, leise wie ein Dieb, damit sie nicht geweckt wird. Auf dem Balkon dann lässt er seinen Gedanken freien Lauf, die völlig unstrukturiert in seiner Vergangenheit hin und her pendeln. Bald ist er Kind, dann Pubertierender, dann wieder Kind, bald verheiratet, wieder Kind, so geht das hin und her.
Diano Marina, riviera dei fiori
Regelmässig ging er als Kind und junger Erwachsener ans Mittelmeer nach Italien mit seinen Eltern,. Er sieht sich schwimmen, er hört das Stimmengewirr unten am Sandstrand, er sieht sich eine Burg bauen mit anderen Kindern, er sieht auch, dass er voller Hemmungen ist, das fremde Mädchen mit den Zöpfen anzusprechen, aus Angst, eine Absage zu bekommen. Er riecht die Pizzastücke, wie sie morgens um 11 Uhr als Apéro serviert wurden. Er war ganz glücklich in diesen Ferien und beschliesst, wieder einmal nach Diano Marina zu gehen. Er will alles nochmals nochmals durchleben, will das im maurischen Stil erbaute Hotel wiedersehen, in dem er mit seinen Eltern war. Ob er es freilich wirklich tun wird, steht auf einem ganz anderen Blatt. Er will die Bilder seiner Vergangenheit vielleicht doch nicht mit jener der Gegenwart konfrontieren.
0445 Uhr.
Von Schlaf keine Spur. Aus der Ferne hört er eine Amsel, und die ersten sanften Strahlen der Sonne vertreiben nun endgültig die Nacht. Er versucht erneut, seine Gedanken zu strukturieren, aber es gelingt ihm nicht. Er möchte inskünftig nicht mehr von der Vergangenheit heimgesucht werden, er möchte sich nicht mehr unproduktiv mit der Zukunft auseinandersetzen. Er möchte nur die pure Gegenwart spüren und in ihr leben, aber es gelingt ihm nicht so recht. Er ist ein Schwelger und lässt sich von den schönen Momenten der Vergangenheit treiben. Ob er sie verklärt? Das wäre möglich. Vielleicht war es ja gar nicht so toll in Diano Marina, und die Sandburg war wohl niemals so gross, wie er sich das soeben vorgestellt hat.
Seine Vergangenheit ist sein Konstrukt, seine Zukunft ebenso. Was bliebe, ist die Gestaltung der Gegewart.
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