Sonntag, 3. März 2013

Die Entführung - eine nächtliche Nachlese

Ich kann nicht schlafen, unruhig wache ich auf - es hat keinen Sinn, mich gegen meine Unruhe wehren zu wollen. Während meine Tochter tief und friedlich schläft, verfolgt mich der heutige bzw. gestrige Opernabend.

Konstanze wird in der Inszenierung nicht von bösen Mächten aus dem Orient entführt, nein. Sie ist es, die sich entführt, genauer: ihre innere Zerrissenheit lässt ihr keine Ruhe und lässt sie vor sich selbst flüchten. Die Logik dieser Interpretation kommt bereits in der Ouvertüre unmissverständlich zum Ausdruck, indem Konstanze kurz vor der Hochzeit ihr Jawort verweigert und panikartig die verwirrte Hochzeitsgesellschaft verlässt. Ihre exotische Reise führt sie nicht in ein Harem wie in der Originalausgabe der Oper, sondern auf eine Erkundungsreise zu sich selbst. Bald wird ihr Schatten sichtbar gemacht, indem eine zweite Konstanze auf die Bühne tritt: diese ist schwarz gekleidet und wird Konstanze, ganz in weiss, stets eng und antreibend begleiten. Damit sind wir beim Thema dieser Inszenierung angekommen: die unglaubliche Zerrissenheit der handelnden Personen, die in der Musik Mozarts natürlich schon angelegt ist, aber auch im Libretto, wird hier radikal weitergedacht und auf den Punkt gebracht. Die Dialoge zwischen ihr und ihrem Entführer entpuppen sich sehr schnell als innere Monologe einer Frau auf der Suche nach sich selbst und ihrem wahren Ich, dies szenisch und musikalisch meisterhaft umgesetzt namentlich in der legendären Marterarie. Doch nicht nur Konstanze ist von innerer Zerrissenheit geprägt: ihr Verlobter Belmonte ist es ebenso, er, der sich von seiner Verlobten längst ein starres Bild gemacht hat und in einer Szene symbolisch bloss nur ihre Kleider liebkost und nicht merkt, dass es sich bloss um eine Hülle handelt, während Konstanze mit ihren Schattenanteilen fassungslos neben ihm steht.

Das Bühnenbild wird von Wesen aus Märchen und Fabeln und aus der Welt des Archetypischen sowie von einem mit einem grossen weissen Tuch bedeckten Gegenstand umrahmt: es liegt auf der Hand, dass darunter ein grosser Käfig sein muss. Dieser wird erst kurz vor dem Finale enthüllt - in ihm sitzt aber nicht etwa ein Vogel, sondern ein kleines Mädchen, das in frappanter Art Konstanze gleicht und scheinbar mühelos den Käfig verlassen kann. Der Spannungsbogen wird beinahe unerträglich, als das  Mädchen auf Konstanze zuläuft und sich beide, nach kurzer gegenseitiger Annäherung, innig umarmen. Diese Szene wird musikalisch vom zweiten Teil der Ouvertüre umrahmt (womit vom Original natürlich abgewichen wird) und der Bogen scheint sich damit zu schliessen: das innere Kind wird von Konstanze endlich akzeptiert  bzw. in ihr Leben integriert. Eine berührende. ja atemberaubende Szene.

Das Finale ganz grandios: Konstanze ist "ganz Mensch" geworden und sich damit auch ihrer Schattenanteile -und mit allem, was ihnen anhaften kann- sehr wohl bewusst.  Sie steht nochmals kurz vor der Hochzeit, doch auch jetzt, oder müsste man sagen: vor allem jetzt, läuft sie wiederum davon. Anders als zu Beginn der Geschichte lässt sie jedoch die Türe hinter sich nicht zuknallen: sie steht exakt auf der Schwelle zwischen Belmonte, ihrem Verlobten, und der "Welt draussen": wie wird sie sich nun entscheiden? Es gibt, scheinbar, nur ein entweder-oder: Ja/Nein. Wir wissen es nicht, alles ist offen, der Vorhang fällt.

Meine Tochter hat diese Inszenierung natürlich nicht verstehen können, und damit befand sie sich bei dieser Premiere allerdings in guter Gesellschaft. Ganz am Schluss, nachdem die Sängerinnen und Sänger und das Orchester zu Recht mit starkem Beifall für ihre Leistungen honoriert worden sind, betritt die Regisseurin die Bühne. Die vielen Buhrufe, die der Regie gelten, können auch durch meine und anderer lauten und festen Bravorufe nicht übertüncht werden. Viele im Publikum - nicht nur ältere, die wohl eher eine traditionelle Inszenierung erwartet hätten - sind ganz offensichtlich überfordert mit der Deutung, manche sitzen ratlos auf ihren Stühlen, andere protestieren entweder leise mit Kopfschütteln oder lassen ihrem Unmut laut und deutlich freien Lauf. Dem Publikum wird ohne Frage viel zugemutet. Die Inszenierung ist aber eine Fundgrube tiefenpsychologischer Ausdrucksformen und Deutungen, über die es sich lohnt, weiter nachzudenken. Keine Frage, dass diese Inszenierung noch viel zu reden geben wird - zu Recht, wie immer man zu ihr stehen mag. So und nicht anders muss Oper sein: anregend, aufwühlend, fesselnd, weiterführend.

3 Kommentare:

  1. Wow! Ich bin keine Operngängerin und nicht vertraut mit Opern-Inhalten, aber deine Interpretation ist einfach grossartig und absolut einleuchtend, wenn man etwas mit tiefenpsychologischem Wissen vertraut ist. Sehr spannend. Sehr einleuchtend! Danke!!
    Gruss Ursula

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    1. Liebe Ursula, danke für die Blumen :-).
      Herzliche Grüsse und Dir eine gute Woche. P

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    2. Wünsche ich dir auch und freue mich auf weitere Beiträge. Lieben Gruss U.

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