Freitag, 29. Juli 2011

Die blaue Truhe im Keller

Heute Morgen war ich in meinem Keller und bin, wie zufällig, über eine kleine blaue Truhe gestolpert. In dieser hatte ich beim Tod meines Vaters allerlei Material, das ich in seinem Zimmer im Altersheim vorfand, verstaut, ohne damals genauer hinzugucken. Ich war in jenen trüben Novembertagen zu sehr mit der bevorstehenden Beerdigung und den damit einhergehenden Verpflichtungen beschäftigt, so dass alles Material -Briefe, Fotos, allerlei Kleingedrucktes, Hefte, Zeitungen, Flugtickets der Swissair, Versicherungsurkunden etc.- in die Truhe warf.

Heute Morgen habe ich sie mit Ehrfurcht geöffnet. Langsam sichte ich das Material, sortiere es und beginne die diversen Briefe, Tagebucheinträge etc. aufmerksam zu lesen und die alten Fotos zu bestaunen. Das Material ist in erstaunlich guter Qualität, die Briefe bzw. Fotos kaum vergilbt. Wie eine Faust schlägt mir die Vergangenheit mit voller Wucht entgegen. Mit staunenden Augen gehe ich einen kleinen Teil des Lebens meines Vaters durch und nehme von seinen diversen Lebensstationen Kenntnis: mein Vater als Artillerieangehöriger im Militärdienst an der Grenze (1943-45), mein Vater mit mir nicht bekannten Leuten in der Kronenhalle in Zürich am Feiern (die alte Speisekarte einschl. der Rechnung liegen bei), mein Vater als kleines Kind, als junger Liebhaber oder Ehemann, mein Vater in der Badehose am Meer, mein Vater als Kaufmann, mein Vater in seinem schnellen Auto. Dann: alte Briefe, geschrieben von seinen Söhnen aus erster Ehe, lieber Papa, wir haben dich gern oder: danke für das schöne Geschenk, wann sehen wir uns wieder? Ich gehe das Material immer wieder durch, dabei denke ich mir Geschichten aus, wie es denn hätte sein können, damals im Militärdienst, damals im Zürich der frühen 50er Jahre, damals am Meer, damals in der Stadtwohnung in Zürich. Mein Vater muss bereits als junger Mann gut verdient haben, das verraten seine Kleider auf den Bildern, die diversen Rechnungen von Restaurants, Hotels und dergleichen mehr, die Aufnahmen aus der damaligen (ersten?) Wohnung, da ist wenig Kleinbürgerliches zu spüren. Mein Vater hatte seine Ausgaben, zumindest eine Zeit lang, minutiös protokolliert, selbst Ausgaben für Briefmarken und Gespräche aus der Telefonzelle wurden vermerkt: Ausdruck von Pedanterie oder von zwinglianischer Tugend. Ich kann mich von diesem historischen Material kaum lösen, gierig gehe ich es als Sohn (also emotional) und als Historiker (mit dem Versuch, Distanz und damit Objektivität einzunehmen) immer wieder durch, lese die alten Zeitungsausschnitte, nehme von dieser oder jener Notiz Kenntnis. Und ich ertappe mich dabei, wie ich mir immer wieder Geschichten ausmale, wie es denn hätte sein können. Alltagsgeschichte (nahe stehender Menschen) als Ausgangspunkt für allerlei Phantasien und Projektionsflächen.

Später stösst meine Tochter dazu und bestaunt mit grossen Augen das vorhandene Material. Ja, sage ich ihr, so war es damals, glaube ich.

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