Samstag, 15. Dezember 2012

Vor dem Spiegel

Es war einmal ein Mann, der von sich glaubte, nie alt werden zu müssen. Vielmehr glaubte er insgeheim, ewig jung bleiben zu können. Und so lebte er sein Leben und feierte seine runden Geburtstage nicht ohne Pomp, aber im stilvoll. Den 50. Geburtstag verbrachte er mit vielen Freunden und Bekannten in der Südsee, den 60. in einer Skihütte auf 3'500 Metern über Meer in den Walliser Alpen, um am darauffolgenden Tag auf eine Skitour zu gehen. Seinen 70. Geburtstag feierte er in der Kronenhalle in Zürich bei Kalbsgeschnetzeltem mit Rösti. Dazu gab es schweren Burgunder.

Nein, liess er verlauten, das Altern ist für mich kein Thema. Und so verstrichen die Jahre. Und plötzlich (er mochte nun etwa 78 Jahre alt sein), es war an einem kühl-nassen Herbstmorgen, betrachtete er sich zum ersten Mal seit vielen Jahren ganz aufmerksam im Spiegel. Dieses Mal mochte er nicht gleich wieder vor dem verdammten Spiegel, wie er ihn manchmal nannte, flüchten, nein, er verharrte vor ihm und begann zu sinnieren. Das also bin ich, stellte er fest, das bin ich. Er erschrak und murmelte vor sich hin, dass auch er alt werde. Ja, auch du! Was habe ich bloss in all den Jahren eigentlich gemacht? Diese seine Frage mochte er nicht beantworten, stattdessen zwängte er sich in seinen Jogginganzug und nahm seinen täglichen 12-Minutenlauf in Angriff. Mit seiner Leistung lag er zwar immer noch im grünen Bereich, auch wenn er wie eine Lokomotive keuchte und innerlich gegen die Gesetze der Zeit rebellierte. Im Wald waren die Blätter schon gelblich-braun verfärbt und säumten seine Laufstrecke. Die Sonne schien und die Vögel sangen wie eh und je.

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