Donnerstag, 28. Juli 2011

Manfred H, Karl-Liebknecht-Strasse, Berlin

Ich stelle mir vor:

Er kann nicht schlafen, einmal mehr. Die Uhr zeigt 0350 Uhr. Je mehr er versucht, gegen die Schlaflosigkeit anzurennen, umso mehr wird sie ihn necken. Er wälzt sich hin und her. Was tun? Aufstehen und Tee trinken? Er bleibt liegen und denkt sich eine Geschichte aus, hütet sich aber davor, immer wieder denselben Traum durchzugehen, oder nochmals die Gassen und Strassen in Erinnerung zu rufen, die er kürzlich gegangen ist: nein, er will jetzt nicht an den See denken, an den grünen Park, nichts dergleichen (weil er sich vor nächtlichen Tränen fürchtet). Stattdessen fällt ihm Manfred ein:

Manfred H. war ein Jugendfreud von ihm. Damals, als er Student war, war Manfred rund doppelt so alt wie er. Überzeugter Kommunist, wohnhaft in Berlin-Ost, Karl-Liebknecht-Strasse, vom Wohnzimmer aus mit direktem Blick auf den Alexanderplatz. Manfred arbeitete bei den städtischen Behörden und war, zumindest offiziell, für Städteplanung zuständig. So viel er weiss, war Manfred Mitglied der SED, wahrscheinlich aus Überzeugung. Als er Manfred jeweils besuchte, überliess er ihm seine kleine Wohnung, Manfred hauste in dieser Zeit bei seiner Lebenspartnerin Hannah, Ärztin an der Charité. Punkt 0700 Uhr tauchte Manfred wieder auf und weckte ihn stets mit den Worten: guten Morgen Peter. Ich habe dir das Neue Deutschland mitgebracht, dazu Brötchen und Schinken. Und Marmelade. Wünsche Dir einen guten Tag, bis heute Abend. Und schon war er wieder verschwunden. Tagsüber dann schlenderte er durch Ost-Berlin, nein: durch die Hauptstadt der DDR, Ost-Berlin war ein Schimpfwort für Manfred, er achtete also darauf, in seiner Gegenwart nicht von Ost-Berlin zu sprechen. Abends dann mit Manfred unterwegs, entweder im Palast der Republik oder zur letzten Instanz. Eisbein und Bier. Und Vitaminsalat, er musste über diese Bezeichnung immer schmunzeln. Manfred war ein ernster Mensch, gerne dozierte er über den Sozialismus, über Planwirtschaft und natürlich auch über die Mauer, die für ihn ein notwendiges Übel darstellte. Er hörte ihm gerne zu, widersprach da und dort, was Manfred umso mehr in Fahrt kommen liess. Er versuchte, Manfred mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, schleuderte ihm Marx-Zitate um den Kopf, um ihn in Widersprüche zu verwickeln. Doch Manfred war ein harter Knochen, belesen und stur und nicht empfänglich für sozialdemokratisches Gedankengut. In der Nacht, als dann die Mauer fiel, rief er ihm an: Mensch Manfred, die Mauer ist offen! Ach so, meinte er trocken, ich weiss von nichts. Seine Welt brach an jenem Abend jäh zusammen. Er glaubte an ein besseres Deutschland, auch dann, als es längst offensichtlich war, dass es kein besseres Deutschland war. Im Verlaufe der 90er Jahre verlor er Manfred aus den Augen, er weiss nicht, was aus ihm geworden ist. Wenn er jeweils in Berlin ist, zögert er immer wieder, ihm anzurufen. Lebt Manfred überhaupt noch? Jedenfalls wohnt er nicht mehr an der Karl-Liebknecht-Strasse, das hat er in Erfahrung gebracht. Eigentlich wäre es schön und spannend, mit Manfred all die vergangenen Jahre Reue passieren zu lassen. Bestimmt hätten sie sich einiges zu erzählen, wie es denn damals war.

Mit diesen Bildern im Kopf schläft er ein.
Morgens wacht er auf und denkt über seine wirren Träume dieser Nacht nach.
Schlaflose Nächte sind anstregend. Irgendwie muss man sie überbrücken.
Am besten mit alten verjährten Geschichten.

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