Max Frisch
Wandern in den Bergen hat etwas Befreiendes. Alles relativiert sich angesichts der scheinbar unendlichen Weiten, wenn man auf dem Gipfel angekommen ist und sein Herz vor Anstrengung spürt und pochen hört. Ich stelle mir vor:
Sie haben eine ausgiebige Wanderung vor sich. Im Rucksack: eine Thermosflasche mit Schwarztee (versetzt mit viel Zucker), Birnen, Wurst, etwas Gemüse, Wasser. Sie haben ein bestimmtes Ziel auf 2800 Meter vor Augen, welches sie mit zügigen Schritten anpeilen. Unterwegs reden sie nicht viel miteinander, weil es angesichts dieser Weiten nicht viel zu erzählen gibt. Er findet bald seinen eigenen Rhythmus und kommt in eine Tiefenatmung. Er sieht, wie sie dem Grat entlang aufwärts läuft, mit sicheren Schritten, die langen Haare zu einem Rossschwanz gebunden. Sie ist keine Fremde mehr, und doch bleibt sie ihm in einem gewissen Sinne fremd, auch nachts, wenn sie neben ihm liegt und friedlich schläft. Er will auf dieser Wanderung vor allem eines: in dieser schmalen Gegenwart bleiben, aber es gelingt ihm nicht. Alles mögliche geht ihm durch den Kopf, längst Vergessenes auch. Er will sich üben im Loslassen. Je mehr er sich anstrengt, umso mehr muss dieses Unterfangen misslingen.
Bald ist er mental woanders, in seiner Kindheit, dann, zum Beispiel, am Rheinufer. Zuvor haben sie in der Flughalle abgemacht, seine Maschine landet pünktlich. Hoher Pulsschlag bei der Begrüssung. Dann vertraute Momente mit einer Frau, die er doch nicht kennt, aber glaubt zu kennen. Projektionen? Mag sein. Er spürte ihre zärtlich-zierliche Hand, mehr war gar nicht notwendig. Ein Gefühl, angekommen zu sein.
Rast. Er isst seinen Apfel und erzählt etwas Belangloses. Smalltalk. Er schwitzt aus allen Poren und geniesst es, seinen Körper zu spüren, wie er noch voll im Saft ist und den steilen Weg ohne Probleme meistern kann. Die Sonne unbarmherzig heiss, Bäume sind kaum mehr vorhanden, da die Baumgrenze längst überschritten ist. Gegen den Durst hilft der warme Schwarztee. Er will ganz hier in den Bergen sein, was ihm nach wie vor nicht gänzlich gelingt. Seine Gedanken machen ihm einen Strich durch die Rechnung.
Was er lernen will: Loslassen-Können.
Oben angekommen: tief durchatmen. Die Aussicht ist atemberaubend. Er kennt längst nicht alle Gipfel, die er zu Gesicht bekommt. Die Karte verschafft Orientierung.
Gibt es so etwas wie eine Lebenskarte?
Dann: Shit, wie schnell die letzten drei Jahrzehnte vergangen sind!
Was mache ich hier oben überhaupt?
Ganz im Moment ist er in der Gegenwart seiner Tochter. Augenblicklich vermisst er sie, ihre Unbekümmertheit, ihre offene Art, auf das Leben zuzugehen. Das verlängerte Wochenende dauert noch wenige Tage, er wünscht sich den Montag herbei.
Später werden sie zusammen kochen. Safranrisotto, Kalbspiccata, Salat. Dazu einen Roten aus Sizilien. Woran denkst du? fragt sie. Er weiss es, verraten will er es aber nicht. Stattdessen thematisiert er die Gründung des Königreichs Italien vor 150 Jahren (passend zum Essen und zum Wein), das verschafft ihm Distanz. Grappa mag er heute nicht.
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