Samstag, 14. Mai 2011

Lieber Max Frisch


Morgen Sonntag bist du vor 100 Jahren auf die Welt gekommen. In der Schweiz wird dieser Anlass mit etwas Pomp gefeiert, was du wohl dazu meinen würdest? Ich denke, Du hättest gar nicht so viel dagegen. Eitel warst du ja, und, verzeihe mir diese Bemerkung, selbstverliebt. Austeilen konntest du, aber mit dem Einstecken hattest du schon eher Probleme. Aber ich mag deine Literatur, nein, mehr noch: sie ist für mich essenziell. Mit etwa 20 begann ich, deine Bücher zu lesen. Homo Faber, Stiller, mein Name sei Gantenbein, Biografie-ein Spiel, Andorra. Diese und weitere Werke hatte ich als junger Mann gierig aufgenommen, und seither lese ich sie immer wieder, mal weniger, mal intensiver. Es ist für mich in diesem Zusammenhang sehr interessant zu sehen, was ich damals in den Büchern unterstrichen hatte oder mit gelbem Leuchtstift markierte. Manchmal staune ich, was ich zu jener Zeit als für mich wichtige Stellen empfand. Dies nur nebenbei notiert, das sagt vieles über den Leser aus und wie er sich danach weiterentwickelt -oder zumindest verändert- hat.

Geschichten anprobieren wie Kleider (mein Name sei Gantenbein)...mit alternativen Lebensentwürfen spekulieren...wer sind wir eigentlich? wohin gehen wir? und wozu sind wir fähig?

Aktuell lese ich gerade wieder deine Parabel "der Mensch erscheint im Holozän". Die Präzision des Textes ist umwerfend, die schlichte Eleganz der Sprache ist an manchen Stellen atemberaubend. Den Dauerregen, den du dort beschreibst, kann ich buchstäblich spüren, die zunehmende Einsamkeit der Hauptperson, Herr Geiser (der so viel Zeit hat, zuviel Zeit), der sein Ende kommen sieht und dieses einbettet in ein Kontinuum
der Erdgeschichte, ebenso.

Wenn ich mit Frauen über dich spreche, so höre ich immer wieder die lapidare Bemerkung "Männerliteratur". Ich denke schon, dass du die Welt vorab aus deiner männlichen Perspektive beschrieben und erfahren hast. Deine Helden -auch wenn sie am Leben scheitern- sind wohl nicht umsonst alles Männer. Das "Bürgertum" hast du als feindliches Gebilde erachtet. Warst nicht auch du ein verkappter Bourgeois? Nein, da protestierst du, sicher zu recht. Du warst ein streitbarer Demokrat, ein Sozialdemokrat, der -diese Episode kommt mir spontan in den Sinn- mit Pathos am Parteitag der SPD auftrat -war das 1976?- und den Genossinnen und Genossen Mut machte, den eingeschlagenen Weg -mehr Demokratie wagen, wie es Brandt nannte- unbeirrt fortzuführen. Der Applaus war gewaltig, und du hast ihn mit Wonne genossen und ausgekostet.

Eines ist gewiss. Deine scharfsinnigen Beobachtungen und Analysen fehlen heute. Gerne würde ich mit dir über dieses oder jenes diskutieren, streiten, entweder bei dir im alten Steinhaus in Berzona oder in einer deiner Lieblingsbeizen von Zürich, in der Kronenhalle, dort, wo auch das Bürgertum ein und aus geht, freilich das diskrete, aber das hat dich wohl nicht gestört. Ganz in der Nähe ist auch das Opernhaus, aber das besuchtest du, glaube ich, kaum. Dafür hattest du wohl kein Musikgehör.

Alles Gute zu deinem 100. Geburtstag, lieber Max Frisch, auch wenn du ihn persönlich nicht mehr erleben kannst. Deine Literatur lebt weiter, ja ich denke, so lange es Menschen gibt, gibt es deine Bücher, die gerade heute wieder entdeckt und von jungen Menschen mit Interesse und Neugier gelesen werden. Wer bin ich? Diese Frage bleibt zentral, weshalb du nie aus der Mode geraten wirst, vor allem auch deswegen nicht, weil du keine dazugehörigen Antworten geliefert hast.


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