Mittwoch, 26. Mai 2010

Vom Türhüter

Gerne würde ich nach dem Wendepunkt meines Lebens greifen, ich sehe ihn, fühle ihn, tapse nach ihm. Unweigerlich kommt mir dabei Kafkas Parabel "vor dem Gesetz" in den Sinn, die Geschichte jenes Mannes, der Eintritt begehrte in das Gesetz, doch all das Betteln nützt ihm nichts, der Türhüter verweigerte ihm den Zutritt. Kurz vor seinem Tod sagt ihm dieser jedoch, der Zutritt sei allein für ihn bestimmt gewesen, nun schliesse er aber die Türe endgültig zu.

Der Mann liess sich durch den Türhüter entmutigen, er wagte nicht, den entscheidenden, sprich lebensbejahenden Schritt zu tun und hinter die Türe zu schauen, statt dessen verhielt er sich passiv, ängstlich, die Niederlage antizipierend und herbei redend. Der Mann vor dem Gesetz ist auch Teil meiner selbst, der Türhüter in mir erschwert mir den Zutritt zur ersehnten Türe, so dass ich zur Resignation neigen und mein Handeln auf eine passive, abwartende Haltung reduzieren kann. Manchmal rebelliere ich mit geballter Kraft dagegen an, lasse mich aber dann doch zu schnell entmutigen. Natürlich weiss ich, dass das Leben von uns mehr abverlangt, nämlich Mut zu haben (im umfassenden Sinn): Mut zur Wahrheit und, elementar, Mut, sein Leben zu leben, sich nicht von inneren und äusseren Zwängen -und damit vom (inneren) Türhüter- entmutigen zu lassen. Schöne Worte, allein die Umsetzung fällt nicht immer leicht, und oftmals glaubt man, vor dem berüchtigten Berg zu stehen. Wie gut, allzu gut kenne ich dieses Gefühl der Ohnmacht.

Was für eine schreckliche Erkenntnis muss es für den Mann gewesen sein, als er ganz am Schluss seines Lebens erfährt, dass er sein Leben hätte leben können, wäre er nur seinem Weg gefolgt: die Türe –seine Türe!- stand ihm –nur ihm!- offen, er hätte sie nur betreten sollen und sich nicht vom Türhüter einschüchtern lassen. Wenn es eine Hölle gibt, dann jene: am Schluss seines Lebens das nicht gelebte Leben Revue passieren zu lassen und sich dessen bewusst zu werden. Genau davor will ich mich schützen, wissend und ahnend, dass ich dann und wann trotzdem das Verhaltensmuster des Mannes vom Lande annehme - und darob beinahe verzweifle.

Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. «Es ist möglich», sagt der Türhüter, «jetzt aber nicht.» Da das Tor zum Gesetz offen steht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: «Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kam nicht einmal ich mehr ertragen.» Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, daß er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: «Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.» Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergißt die andern Türhüter, und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zuungunsten des Mannes verändert. «Was willst du denn jetzt noch wissen?» fragt der Türhüter, «du bist unersättlich. » «Alle streben doch nach dem Gesetz», sagt der Mann, «wieso kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?» Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: «Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.»

Franz Kafka

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