Heute habe ich beim Zubereiten des Abendessens an meinen verstorbenen Vater denken müssen. Was ich vor meinem geistigen Auge sah, während ich gedankenversunken die Currysauce zubereitete:
Samstagmorgen, 0930 Uhr. Die Bewohnerinnen und Bewohner des Altersheims plaudern bei Kaffee und frischen Brötchen. Es riecht nach Bodenwichse und Filterkaffee. An einem der Tische sitzt mein Vater. Als er mich sieht, freut er sich über meinen Besuch. Viel plaudern mag er nicht. Da, auf einmal, wird ein Sarg an den Tischen vorbei getragen. Es sei wieder jemand gestorben, sagt einer laut. Ja, wer denn, will eine Dame wissen. Achselzucken, während ein anderer meint, es sei wohl der Fritz, der da im "hölzernen Pyjama" liege. Mein Vater schweigt und tut so, als gehe ihm dies alles nichts an. Ob das denn immer so sei, will ich wissen, dass die Särge der frisch Verstorbenen durch das Kaffeehaus getragen werden. Ja, das sei so. Weil halt die Hintertüre zu klein sein. Schweigen an unserem Tisch, während an anderen Tischen munter weitergeplaudert, geschwiegen, gestritten oder gelesen wird. Dann denke ich mir: hier warten alle auf den Tod, so wie wir ja auch. Die einen verdrängen den Tod, die anderen reden über ihn. Andere schauen beim Anblick des Sarges demonstrativ weg, ein anderer steht auf, wieder jemand anders beginnt irgend ein Lied zu singen (oh du schöne Heimat).
Altersheim - schon der Name macht mich halbwegs krank. So lange es irgendwie geht, bleiben die Menschen zu Hause, die spitalexterne Betreuung, wie das bei uns heisst, macht es möglich. Mein Vater war leicht bis mittelschwer dement und zu schwach -und vor allem auch meine Mutter, die es nicht mehr aushielt-, um zu Hause bleiben zu können. Ihm blieb nichts anderes übrig. Ich sehe noch sein Zimmer, nein: sein Zimmerchen. Rechts das Waschbecken (Lavabo, wie es in der Schweiz heisst), links das Bett, ein kleines Sofa, ein kleiner Schrank - fertig. Ansonsten: jeder tut, was er will, Altersheime sind heute keine Gefängnisse mehr. Mein Vater ging anfänglich noch ein und aus - und verirrte sich prompt einige Male. Einmal irrte er an einem frühen Sonntagmorgen mitten in der Stadt umher - es war kalt, grau, Herbst. Die Polizei fand ihn und brachte ihn zurück, man informierte mich darauf. Keine schönen Geschichten.
Ja, solche und weitere Bilder kommen mir zeitweise in den Sinn - wie angeschossen, so wie heute Abend, an diesem grauen, kalten Januarabend, beim Zubereiten des Abendessens. Ich stehe mitten im Leben und doch lauert
er auch auf mich, ich weiss es, so wie er überall lauert, täglich, und er kann jederzeit zuschlagen, in welcher Form auch immer.
Und ich stelle mir vor, wie es heute im Altersheim wohl war: das übliche Tagesprogramm für jene, die mitmachen wollen. Gemeinsames Singen und etwas Turnen. Nachmittags kommt vielleicht in Clown vorbei mit Hund, alte Menschen werden oftmals wie Kinder wahrgenommen und behandelt. Und morgen wird vielleicht wieder ein Sarg vorbei getragen, wenn Kaffee und frische Brötchen aufgetischt sind und Frau Müller und Herr Maier Geschichten aus vergangenen Zeiten erzählen. Und ich werde arbeiten und so tun, als gehe mich dies alles nichts, aber auch gar nichts an.