Samstag - ich bin heute tagsüber "allein". Ich setze es bewusst in Anführungszeichen, weil ich ebenso "allein" sein kann, wenn ich in Begleitung anderer Menschen bin. Zweisamkeit kann ebenso einsam machen, da weiss ich, wovon ich spreche. Doch heute bin ich physisch allein, und es tut mir gut. Wir haben wunderschönes Wetter, es ist für die Jahreszeit hier viel zu warm. Ich lese, sitze draussen auf der Terrasse, esse zwischendurch eine Frucht, lese wieder, und nun schreibe ich. Ich schreibe ohne Absicht und lasse mich von meinen Gedanken ad hoc treiben. Ich versuche, in mich zu fühlen: bin ich glücklich? Ach, nicht wirklich. Der Umkehrschluss, ich sei unglücklich, würde auch nicht der Wahrheit entsprechen. Ich bin einfach da, ich nehme den Augenblick wahr und versuche, mich ganz auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Ich lese Frisch, dieses Jahr wäre er 100 Jahre alt geworden. Dieser Autor hat uns auch heute noch einiges zu sagen, seine Fragen nach der Identität sind für mich persönlich von höchster Aktualität.
Heute Abend werde ich also nicht "allein" sein, oder etwa doch? Ich werde mit B. essen gehen, an einem schönen Ort, mit Blick auf eine imposante Bergkulisse - Abendrot und blauem See eingeschlossen. Ich verspüre so etwas wie Stagnation, trete vor Ort. Ich muss nächstens weg von hier, mich etwas ausspannen, am Besten mit meiner Tochter, die nun Schulferien hat. Ab in die Berge, ich brauche frische Luft und den kalten Bergsee, der mich durchschüttelt und mich zum Schreien zwingt, wenn ich es wage, ihn zu betreten, und sei es nur mit nackten Füssen und Beinen. Ich registriere, wie meine Tochter wächst, aufmerksamer wird, wie sie beginnt, differenzierter zu argumentieren. Das Leben um mich herum stagniert nicht, nur ich stagniere, obwohl ich in letzter Zeit doch einiges dazu gelernt habe. Aber das mentale Treten vor Ort zeigt mir, dass ich die Kurve noch nicht erwischt habe, jene Kurve, die weiterführt und mehr Gelassenheit zuliesse.
Ich möchte am Liebsten weg sein - und bleibe am Liebsten hier (Biermann)