Voltaire
Es war einmal ein Gärtner, der einen schönen Garten hatte. Er pflegte ihn regelmässig mit all seinem Können, und die Blumen und Früchte fühlten sich ganz wohl darin. Eines Tages entdeckte der Gärtner eine ihm bislang unbekannte Frucht. Er sah sie staunend an, er schnupperte an ihr und überlegte sich, wie sie botanisch einzuordnen wäre. Doch alles Recherchieren nutzte nichts, die Frucht blieb ihm unbekannt. Mit jedem Tag aber wurde sie schöner und geheimnisvoller, sie duftete nach Leben und Sonne und erfreute ihn so sehr, dass er sich überlegte, die Frucht zu kosten.
In diesem Augenblick, so schien es ihm, begann die Frucht leise und zärtlich zu ihm zu sprechen. "Du darfst mich kosten, aber bedenke, dass du danach wieder lange warten musst, ehe eine neue Frucht blühen wird". Er zögerte eine Weile und überlegte sich die weiteren Schritte. Nach einer ganzen Saison - die Frucht blühte immer noch in voller Pracht, war aber jetzt noch reifer und roch intensiver als zuvor - entschied er sich, die Frucht zu ernten.
Behutsam pflückte er sie, schnupperte an ihr und legte sie ganz sanft und mit leicht bebender Hand auf seine Zunge. Da umhüllte ihn ein Wonnegefühl, wie er es nie zuvor erlebt hatte. Der Geschmack der Frucht war intensiv und lieblich, es schien, als würde sein Körper und mit ihm all seine Sinne von der Frucht ergriffen. Verglichen mit dem, was er sonst liebte - Erdbeeren, Himbeeren, Brombeeren, Heidelbeeren und manch anderes mehr - war diese Frucht etwas ganz Besonderes, Einmaliges, noch nie Dagewesenes. Alles war anders an ihr, ihre Konsistenz, ihr Geschmack, ihr Äusseres, ihre Säure, rundweg alles.
Als er sie ganz ausgekostet hatte - jeder einzelne Bissen katapultierte ihn in andere Sphären -, wusste er gleichzeitig, dass er nun lange warten müsste auf eine neu heranwachsende Frucht. Ab diesem Tag pflegte er seinen Garten mit noch mehr Achtsamkeit und Liebe. Täglich schaute er nach, ob die Blumen und Früchte genug Wasser hätten und ob die Erde in einem guten Zustand sei. Und er wartete und wartete und wartete, pflegte weiterhin die Erde, schnitt die Sträucher und tat alles, damit die Frucht, seine Frucht, von Neuem zu wachsen anfing. So ging das weiter, die Jahre vergingen, die übrigen Früchte gehorchten dem Jahreszyklus und blühten und reiften wie eh, doch seine Frucht, seine ganz spezielle, einmalige Frucht, liess auf sich warten.
Der Gärtner wusste sehr wohl, dass man seinen Garten pflegen muss.
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