Mittwoch, 31. August 2011

Das geschenkte Buch

Manchmal durchwühle ich meine "geheime" Truhe, in die alles kommt, was nun wirklich nur mich etwas angeht. Da findet man vergilbte Briefe, alte Ansichtskarten, längst überholte Aufsätze und dergleichen mehr.

Soeben habe ich sie wieder geöffnet statt endlich ins Bett zu gehen (morgen muss ich früh aufstehen). Deine Karten sind dort auch aufbewahrt. Deine Schrift. Es sind nur wenige Zeilen, aber diese wenigen Zeilen -ich merke es ihnen an, dass sie das Herz sprechen lassen- genügen, um mich melancholisch stimmen zu lassen. Ich betrachte den Poststempel auf den Briefmarken. Ich denke nichts dabei bzw. will nichts denken. Auch möchte ich emotional nicht berührt werden, aber ich habe keine Chance, dagegen anzukämpfen. Stattdessen blättere ich im Buch, das mir geschenkt worden ist. Etwas fällt aus ihrer Hand, es muss eine Rose sein, schnappe ich beim Durchblättern wie zufällig auf.

Ich werde es morgen auf meine kleine Reise mitnehmen. Werde es wiederum mit Genuss Seite für Seite durchlesen und ab und zu in die vorbeiziehende Landschaft schauen und nichts denken wollen. Verwundere dich aber nicht, dass ich dabei doch an dich denken werde. Vielleicht gelingt es mir bei all dem, wenigstens die Gefühle zu deckeln.

Auch heute ein gute-Nacht-Lied

There's so much you have to know.
Find a girl, settle down,
If you want you can marry.
Look at me, I am old, but I'm happy.

Auf das but kommt es wohl an.

unerbetener Besuch

Heute packte mich wieder einmal für einen kurzen Moment das Gefühl des allumfassenden Ekels. Wie angeworfen und ohne ersichtlichen Grund. Alles wurde mir fremd, meine Tätigkeit, meine Umwelt, ja gewissermassen alles, was mich umgab, ohne dass man es mir angesehen hätte. Da war es also wieder da, dieses Gefühl des in-die-Welt-geworfen-sein. In solchen Momenten gibt es keinen sicheren Boden mehr unter den Füssen, keinen sicheren Halt, keinerlei Sicherheiten, nichts. Man nimmt nur noch einen Abgrund wahr, den absoluten freien Fall. Und plötzlich, wie der Ekel gekommen ist, war er auch wieder verschwunden.

Dienstag, 30. August 2011

Gute-Nacht-Lied

Mit dieser Musik werde ich heute Abend einschlafen.
Träumend, dass ich mit dir durch die Nacht ziehe, Hand-in-Hand entlang des Flusses.

Und morgens wachen wir auf, eng umschlungen und in freudiger Erwartung eines üppigen Frühstücks. Es duftet nach frischem Kaffee und dunklem Holzofenbrot.

Die Ermächtigung

Ich lebe getrennt von meiner Frau und bin doch verheiratet. Und das Komische daran: dieser Umstand stört mich überhaupt nicht. Sollte ich morgen oder übermorgen sterben (mit dem Fahrrad in der Stadt unterwegs zu sein kann gefährlich sein; doch auch eine Gehirnblutung ist durchaus denkbar, zum Beispiel), sind die erbrechtlichen Folgen von Gesetzes wegen glasklar geregelt. Ich brauche also kein Testament zu verfassen. Und ich brauche auch nicht irgendwelche Briefe zu verfassen, wie ich mir zum Beispiel meine Beerdigung vorstellen würde, denn die Mama meiner Tochter weiss dies (intuitiv) sehr wohl. Auch über den Grabstein, so denke ich mir, wüsste sie Bescheid: grauer Granit ohne Schnickschnack, idealerweise quadratisch (ich werde sie bei Gelegenheit darauf ansprechen). Welche Farbe die Urne haben soll ist mir demgegenüber egal, das delegiere ich stillschweigend, ebenso was deren Form anbelangt. Auch gibt es keine Texte von mir bezüglich meiner Todesanzeige, auch dies wird ohne Zweifel in meinem Sinn verfasst (also auch hier: Delegation). Was der Pfarrer oder die Pfarrerin erzählen wird, kümmert mich nicht gross (also: Delegation). Ja, die Mama meiner Tochter könnte dies alles bestens erledigen, zu meiner gänzlichen Zufriedenheit.

Es ist gut zu wissen, dass dem so ist.
Im umgekehrten Fall wäre es, glaube ich, auch so.

Denn mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben.

schlichte Frage

Heute habe ich mich beiläufig gefragt, wen ich eigentlich wirklich kenne. Die Antwort bleibe ich mir vorerst schuldig.

Sonntag, 28. August 2011

September

Noch vier Tage.
Dann bist du da.

Du bringst Nebel, Milde, sinnliche Farben, wunderbares Licht.
Ich freue mich auf dich.
Du erinnerst mich an Begegnungen und Berührungen,
die ich eh nicht vergessen kann.
Du warst dabei, hast uns zeitweise Nieselregen beschert,
aber auch Sonne und Wärme.
Ein Feuerwerk der Farben, Düfte und Sinnlichkeit liess uns abheben.

Lass es immer wieder September werden - zu jeder Jahreszeit.

Wochenende

Das war ein guter Sonntag.
Unspektakulär und bei schönstem Spätsommerwetter.
Spielplatz: wir spielen verstecken (kann ganz schön anstregend sein).
Minigolf (Tochter gewinnt, wenn auch mit etwas Mogeln).
Basteln (Erinnerungsbuch nachführen).
Das war alles und war viel.
Das Kind ist emotional gesättigt.

Keine Sekunde habe ich bei all dem an den Montag denken müssen, das ist ein Erfolg für mich.

Stattdessen:
Sehnsucht nach Herbst, nach kühlen Morgen und milden Nachmittagen.
Furcht vor falscher Nähe.

Und immer wieder das aufbrausende Element in mir, das mich antreibt.
Das Tier in mir, das mich reitet und zur Grenzenlosigkeit verführen will.
Es fällt mir zeitweise schwer, es zu zähmen.
Weil ich weiss, wohin es mich führen möchte.

Samstag, 27. August 2011

Noch etwas Kitsch vor dem Einschlafen

Manchmal tut mir diese Musik einfach gut.
So wie jetzt, kurz vor Mitternacht.
There's nobody here, it's just you and me...

Samstag

Der Samstag hat für mich eine besondere Note.
Als Jugendlicher war ich geradezu verrückt nach ihm.
Samstagabend, das war gleichbedeutend mit Abenteuer.
Sich mit Kollegen treffen zu einer Pizza.
Rotwein dazu in reichlichen Mengen.
Pläne schmieden für den Abend.
Der Glaube, die grosse Liebe zu finden.
Zumindest für eine Nacht.

Und nach den abendlichen Illusionen gings wieder nach Hause.
Zu Fuss oder mit dem städtischen Bus.
Oftmals frustriert, dass es halt wieder nicht geklappt hat.
Das mit der grossen Liebe.
Zumindest für eine Nacht.

Und nun, da ich kein Jugendlicher mehr bin
verbinde ich den Samstag auch mit ganz anderen Geschichten.
Mit einer Geschichte,
die ich zuvor kaum je hätte zu träumen gewagt.

Nie werde ich jenen Samstag vergessen.
Die Stunden, wie sie im Nu verflogen.
Stunden absoluter Zweisamkeit.
Mindestens für einen Augenblick
der Ewigkeit entlehnt.
Momente, die mich süchtig machten.
Nicht nur für eine Nacht.

der Vorgesetzte

Heute morgen vermisse ich zum Beispiel meinen ehemaligen und langjährigen Vorgesetzten, einen Mann mit Weitsicht und analytischer Schärfe, souverän in jeder Hinsicht, verhandlungsstark, calvinistisch geprägt durch und durch, unbestechlich, unermüdlich, absolut verlässlich, sehr anspruchsvoll und grosszügig zugleich, kulturell gebildet, vielsprachig, mit feinster politischer Spürnase ausgestattet. Freitagnachmittags konnte ich ihm ein dickes Dossier in die Hand drücken, so erhielt ich es am darauffolgenden Montagmorgen zurück, mit allen notwendigen Kommentaren, Bemerkungen, Korrekturen etc. versehen.

Nicht zu vergleichen ist schwierig...nun muss ich mit dem Mittelmass leben.

eigentlich...

Heute morgen habe ich für ein Weilchen die Wohnung ganz für mich. Ich geniesse die absolute Ruhe, und die Balkontüre ist weit offen, damit die kühle Luft (endlich!) die viel zu warmen Räume abkühlen kann. Und ich lese mich kreuz und quer durch meine Bücher. Kafka lasse ich zur Zeit ruhen, zu labyrinthisch sind mir seine Zeilen in diesem Augenblick.

Stattdessen:

Eine kleine widerliche Unruhe verhindert, dass ich einschlafen kann. Vermutlich habe ich doch wieder ein bisschen Angst vor dem Augenblick, wenn Traudel die Wohnung betritt. Obwohl ich weiss Gott lange genug mit ihr zusammenlebe fürchte ich immer noch, dass ich eine dauerhafte Anwesenheit eines Menschen eigentlich nicht aushalte. Auf diesem eigentlich beruht das halbe Leben! Ich habe den Beruf eines Wäschereigeschäftsführers, aber eigentlich drängt es mich nach ganz anderen Dingen. Ich lebe in einer grossen dreckigen Stadt, aber eigentlich möchte ich ganz woanders leben. Ich lebe mit Traudel zusammen, aber eigentlich...nein, diesen Gedanken traue ich mich nicht zu denken. Und ich habe ihn doch schon gedacht. Prompt ist es wieder soweit: Ich muss eine Katastrophe anschauen, ohne sie zu verstehen.

das Glück in glücksfernen Zeiten, dtv München, 2009, S. 18

Freitag, 26. August 2011

abgearbeitetes Leben

Das soeben gehörte Lied von Wecker bringt es auf den Punkt: die Gefahr, das Leben bloss "abzuarbeiten", ist nicht von der Hand zu weisen. Namentlich dann, wenn man seine sog. Lebensmitte -und damit seine Lebenskrise- erreicht hat.

Und

dass man im Tagestrott sich und seine Bedürfnisse vergisst und nur noch funktioniert-

dass man seine Sehnsüchte ad acta legt und sich denkt, nun ja, es kommt halt, wie es kommen muss-

dass man sich im Fatalismus suhlt-

dass man nur noch das sieht, was man sehen will,
oder: von der normativen Kraft des Faktischen-

dass man sich von den Sachzwängen beherrschen lässt-

dass man, auf den Punkt gebracht, das Leben nur noch verwaltet,
aber nicht mehr gestaltet.

Es gelingt mir, zumindest zeitweise -immerhin!- aus diesem Gefängnis auszubrechen. Die Zelle freilich bleibt existent.

Du bist so hässlich

Ich stelle mir vor:

Plötzlich, spätabends und ohne ersichtlichen Grund (er blättert gerade durch das Feuilleton der NZZ), kommt ihm ein boshaftes Lied in den Sinn, ein Lied von Konstantin Wecker, das er schon lange nicht mehr gehört hat, weil er es vergessen, vermeintlich vergessen hat.

Wie angerührt kommt ihm die Melodie in den Sinn, den dazugehörigen Text kann er beinahe noch auswendig.

Und er ahnt es:
sie wird ihm heute Abend noch anrufen, spätestens morgen.
Und sie schreibt ihm tagsüber gerne eine sms, oder auch zwei oder drei.

Er ist nur noch müde.

Ich leb nun schon zu lange mit derselben Frau im selben
Bau und stottre meine Lebensrunden ab.
Dieselben Kämpfe um die Macht,
dieselben Pflichten in der Nacht.
Ich werde saftlos, und die Hirnsubstanz wird knapp.

Uns ging die Liebe wie ein Taschentuch verlorn,
wenn sie mich anspricht, steh ich neben mir.
Nur manchmal, wenn ich träume, bin ich neu geborn
und spiel den starken Mann und sag es ihr:

Du bist so häßlich, daß ich´s kaum ertragen kann,
mich stört dein Lächeln und dein Gang,
mich stört die Art, wie du mich ansiehst.
Du bist so häßlich, daß ich´s kaum ertragen kann,
mich stört dein Anstand, und schon lang regt es mich auf,
daß du mich anziehst.

Ich bin nun mal ein Untertan,
die Welt faßt sich wie Klebstoff an,
das Leben rennt voll Lust an mir vorbei.
Dieselbe Arbeit Tag für Tag,
ein Gläschen Freiheit laut Vertrag.
Statt Held zu sein, bin ich ein weiches Ei.

Dann kommen Freunde und belagern meine Zeit.
Die alten Sprüche, und ich spiel mit meinen Zehen.
Anstatt jetzt aufzuspringen, zornig und sehr breit
mich vor sie hinzustellen, daß sie jedes Wort verstehen:

Ihr seid so häßlich, daß ich´s kaum ertragen kann,
und euer kindischer Gesang von Glück und Freundschaft
bringt mich um.
Ihr seid so häßlich, daß ich´s kaum ertragen kann,
und euer lächerlicher Drang, mit mir zu lachen,
ist so dumm.

Ich leb schon viel zu lange mit derselben Frau im selben Bau
und stottre meine Lebensstunden ab.
Dieselbe Feigheit jeden Tag,
nicht das zu sagen, was man mag -
selbst meine Heldenträume werden langsam knapp.

Und irgendwann, ich weiß genau, wird sie mich fragen,
warum ich dauernd vor mir fortgelaufen bin.
Ich werde stumm sein und wie immer schweigend klagen,
ja, und dann sagt sie´s mir und stellt sich siegreich vor mich hin:

Du bist so häßlich, daß ich´s kaum ertragen kann,
mich stört dein Lächeln und dein Gang,
mich stört die Art, wie du mich ansiehst.
Du bist so häßlich, daß ich´s kaum ertragen kann,
doch es befriedigt mich schon lang,
daß du mich endlich nicht mehr anziehst.

Rechnungen erledigen mit Mozart

Ich bin zu Hause und erledige meine Rechnungen per ebanking. Um diese Tätigkeit einigermassen erträglich zu gestalten, höre ich auf You Tube Mozart. So realisiere ich kaum, dass ich per Mausklick um einige Tausend Franken erleichtert werde. Auch eine Art Selbstüberlistung.

Donnerstag, 25. August 2011

die kurzen Momente

Wenn ich den heutigen Tag Revue passieren lasse, so stelle ich fest: eigentlich ist nichts geschehen, was von Belang wäre. Purer Alltag. Das heftige Gewitter abends als Abwechslung, ja als kleines Spektakel. Ich überlege mir Details, die heute doch von Belang gewesen wären, ein unverhofftes Lächeln hier, eine kleine Aufmerksamkeit dort. Nein, da war nichts, fast nichts. Enttäuscht bin ich deswegen nicht. Momente des kurzen Glücks kommen, wann sie wollen. Meistens unangemeldet.

Guter Geist der Glückseligkeit, wo magst du sein?
Willst du mich necken?
Oder bist du schon längst abgezogen von hier?
Nein, ich weiss, dass du es grundsätzlich gut meinst.
Du gönnst mir jene kurzen Momente des kurzen Glücks dann und wann.
Selten zwar.
Ich lerne, deine spärlichen Geschenke zu schätzen.
Und manchmal verfluche ich dich doch,
dich und deine Knausrigkeit.

Mittwoch, 24. August 2011

Im Jardin du Luxembourg

Und wenn ich abends wieder zur Ruhe komme und die Alltagspflichten erledigt sind, lasse ich mich von meinen Gedanken, Träumen und Sehnsüchten treiben.

Also stelle ich mir vor:
zum Beispiel Paris
Wir sind im Jardin du Luxembourg,
dort, wo der Senat tagt.



Du und ich.
Es ist Herbst.
Ein strahlender Tag.
Die Sonne, als schiene sie durch Milchglas.
Der Wind, der die Herbstblätter aufwirbelt.
Wir freuen uns auf diesen bevorstehenden Nachmittag.
Die Vögel singen nur für uns.
Der Tisch für den Abend ist schon reserviert.
Bei Rostang im 17e arrondissement.
Wir bestellen das kleine, feine Menü.
Dazu genehmigen wir uns einen Chambertin.
1978, premier cru.

Zuvor gehen wir ins Kleintheater la Huchette,
das seit Jahrzehnten jeden Abend
Ionesco aufführt.
Nur Ionesco.
Die kahle Sängerin.
Die Lektion.
Das befreiende Gelächter dabei!

Später im Hotelzimmer
unser Vollbad,
es duftet nach Eukalyptus.
Unsere Berührungen,
unsere Lust aufeinander.
Grenzen, die ineinander fliessen.
Grenzen, die gar keine mehr sind.
Die Nacht, unser Refugium.
Wir stellen einen Radiosender ein.
France la première
Edith Piaf.
Auch sie singt nur für uns.

Erschöpft schlafen wir Stunden später ein,
als frühmorgens die ersten Vögel von Paris
uns zupfeifen,
dass das Leben so schön sein kann.

gehetzt

Das war wieder ein Tag. Von früh bis spät unterwegs, arbeiten, einkaufen, sich um das Kind kümmern, an Sitzungen hetzen, nach Hause springen, Nachtessen zubereiten, Haushalt schnell erledigen....und so weiter.

Solche Tage sind für mich immer wieder Übungen in Gelassenheit. Nicht immer gelingt es mir freilich, die Ruhe zu bewahren. Wenn der städtische Bus gleich vor meiner Nase abfährt, verfluche ich den Fahrer. Vor der Kasse im Supermarkt werde ich nervös, wenn die alte Frau vor mir ihr Kleingeld zusammenkramt, ich bin daran, ihr das fehlende Kleingeld nachzuwerfen, nur damit ich endlich an die Reihe komme.

In solchen Situationen versuche ich mich zu besinnen, atme tief durch und sage mir: ach komm, ist ja halb so schlimm, andere Menschen müssen ums tägliche Überleben kämpfen - na ja, das stimmt ja, sagt der innere Rebell in mir, aber das nützt mir jetzt auch nichts, ich sollte pünktlich die Sitzung eröffnen.

Gelassenheit ist eine hohe Tugend, ich übe mich täglich in ihr. Ich meine: eine sehr anspruchsvolle Disziplin.

Und schon wieder ruft meine Tochter nach mir !!
Und die Küche ist immer noch nicht aufgeräumt....
ach ja, und morgen muss das Altpapier bereitgestellt werden.

Montag, 22. August 2011

Bartholomäusnacht 1572

In der Nacht zum 24. August 1572 - also vor 439 Jahren - wurden in Frankreich Anhänger der Reformation, die sogenannten Hugenotten, brutal niedergemetzelt. Heute habe ich an dieses Ereignis gedacht, ohne ersichtlichen Grund. Ich sass soeben auf der Terrasse, starrte in den Himmel (bei Blitz und Donner) und stellte mir vor, wie diese Menschen in jener Nacht abgeschlachtet worden sind, nur weil sie nicht "den richtigen Glauben" hatten. Es muss ein furchtbares und geplantes Gemetzel gewesen sein, namentlich in Paris. Exakt morgen vor 439 Jahren wurden die entsprechenden Vorbereitungen dazu getroffen.

So war das damals, und heute sieht es freilich nicht viel besser aus. Trotz Aufklärung, Menschenrechtserklärungen und internationalen Gerichtshöfen: es wird ja so viel abgeschlachtet. Die Bartholomäusnacht ist längst Geschichte - aber sie wiederholt sich doch ständig. Hegel glaubte an den Weltgeist, der die Geschichte zum Besseren lenkt. Er mag zeitweise aktiv sein, doch vornehmlich wird er schlafen. Wer ist in der Lage, ihn wachzurütteln?

Sonntag, 21. August 2011

Das Kind

Das friedlich schlafende Kind beruhigt meine Seele und lässt meine Sorgen für einen Moment ganz vergessen. Es ist schön, ihm zuzuhören, wie es friedlich und ruhig da liegt und tief schläft.

Noch kennt es keine tiefsitzenden Sorgen, keine Ängste und Zweifel.

Es freut sich auf die Schule, auf die Freundinnen und Freunde, auf die Lehrerinnen und Lehrer, auf Deutsch, Singen, Französisch und bildnerisches Gestalten. Und auf manch anderes mehr.

Das Kind kennt keine Vergangenheit, es lebt ganz aus der Gegenwart heraus. Umso mehr kann es den Augenblick geniessen und ganz in ihm aufgehen. Spiel und Realität sind nicht bipolare Gebilde, sondern ergänzen und befruchten sich gegenseitig.

Es hat sein ganzes Leben vor sich, alles scheint möglich zu sein, jede Option ist offen. Es wird bedingungslos geliebt, es hüpft durch die Welt und wird morgen um 0700 Uhr putzmunter aufstehen, Mozart hören, frühstücken, wilde Geschichten erzählen, sich waschen und die Zähne putzen und pfeifend in die Schule gehen.

So schön kann Leben sein.
Ich nehme also mein inneres Kind an die Hand und streichle es sanft über das Haar.

Sonntag

Sonntag.
Hitze, beinahe unerträglich.
Nichts, was an sich heute von Bedeutung wäre.
Nicht an Montag denken.
Mittagessen zubereiten, Musik hören.
Später schwimmen gehen.
Mit dem Kind spielen, reden, herum albern.
Sonntag.
Das Leben kann manchmal so banal sein.
So schön und so beelendend zugleich.

Samstag, 20. August 2011

Distanziert

Ich stelle mir vor:

Dann und wann erhält er von ihr eine sms. Sie sind keineswegs aufdringlicher Natur, vielmehr kleine Grüsse, zwischen den Zeilen aber, sachte verpackt, ein Verlangen nach ihm. Dies wiederum macht ihn kribbelig, weshalb er die sms nicht umgehend beantwortet. Er wird sie später beantworten, aber mit der gebotenen zeitlichen und emotionalen Distanz. Er braucht jetzt vor allem seine Ruhe, seine Musik, seine Bücher. Und ein kleines Stück der aus dem Herzen geborenen Lebensfreude seines Kindes.

Und dann, einmal mehr, die bohrende Erkenntnis:

es fühlt sich sonderbar an, neben einem Menschen zu liegen, den man nicht begehrt. Er liegt da, aber das Herz macht keine Sprünge, es fühlt sich vielmehr so an, als würde er eine Excel-Tabelle im Büro erarbeiten, also emotionslos, teilnahmslos (was nicht mit Lieblosigkeit verwechselt werden darf) und ohne jegliches inneres Feuer. Er hütet sich in solchen Momenten davor, Bilder aus seiner inneren Welt aufzurufen, Bilder voller Sinnlichkeit, Bilder voller gelebter Erinnerungen, Bilder von seltenen Augenblicken der bedingungslos bejahenden Zweisamkeit, Bilder des gelebten Lebens. Aber die Bilder sind doch da, sie berühren sanft sein Herz und lassen ihn für einen Moment alles vergessen.

Er entscheidet nicht, weil er wohl entscheidungsschwach ist.
Damit entscheidet er aber doch.
Er hat nicht den Mut des konsequenten Handelns.
Will nicht verletzen.
Und verletzt doch.

Er wird handeln müssen.

Freitag, 19. August 2011

Freitagabend

Freitagabend.
Endlich.
Hitze umhüllt mich.
Nur noch das kalte Nass wollen!

Ich bin nach dieser Woche ausgelaugt.

Ich gehe meinen alltäglichen Pflichten so gut es geht nach und versuche, auch einmal ein Liedchen zu trällern. Lebensfreude sieht freilich anders aus, aber ich jammere nicht. Beklage nichts. Ich versuche, mich mit dem zufrieden zu geben, was ich habe und was ich bin.

Also geniesse ich heute Abend das Bad im kühlen Nass
bei leichtem Wellengang.
Den Sonnenuntergang auch.
Und das anschliessende kühle Bierchen.
Das wäre ja schon viel.

Nur eines mag ich nicht ertragen:
Zärtlichkeiten, wenn das Herz dabei so stumm bleibt.

Mittwoch, 17. August 2011

Innehalten

Ich habe neuerdings 10 - 12 Stundentage, und es sieht ganz danach aus, dass sich dies zu einer Regel entwickeln könnte. Morgens gegen 0700 Uhr bin ich im Geschäft, dann kurze Mittagspause, abends gehe ich gegen 18 / 1830 Uhr aus dem Büro. Ich bin unter Druck, business ist angesagt. Das geht natürlich nur in jenen Wochen, in denen ich mich nicht um meine Tochter kümmern muss. Zum Glück habe ich aber diese Betreuungsaufgabe, sonst könnte ich mich womöglich zu einem süchtigen Arbeitstier entwickeln, der nur noch für das Geschäft lebt. Dieser Gedanke, auch wenn er nur hypothetischer Natur ist, beängstigt mich.

Und bei all dem Druck komme ich dennoch zu meiner Ruhe. Abends, nach etwas Sport, kommt langsam die Entspannung in Form eines melancholischen Daseins. Ich gucke in die dunkle Nacht und lasse mich von ihr und meinen Träumen treiben, lasse dabei all das zu, was während des Tages notgedrungen nicht Platz hatte. Nicht selten sind in solchen Momenten des Innehaltens Glücksgefühle und Niedergeschlagenheit so eng beieinander. Vielleicht schaukeln sie sich gegenseitig hoch, vielleicht sind sie gar siamesische Zwillinge, die sich gegenseitig ergänzen, ja bedingen. Ich halte diese melancholische Spannung aus, sitze auf dem Balkon und trinke ein kühles helles Bier.

Dann kommen Bilder in mir hoch, alimentiert aus innigen Begegnungen: kurze Momente von intensivem Glück ohne jeglichen Bezug zur Vergangenheit oder Zukunft, vielmehr Momente, die nur der Gegenwart und der verlangenden Sehnsucht verpflichtet sind. Momente voller Nähe und Zweisamkeit. Manchmal, wenn ich abends in dieser Stimmung einfach da sitze und mich von Mozarts Klängen berieseln lasse, sehne ich jene raren Augenblicke herbei.

Montag, 15. August 2011

Mag sein

Gefunden vor dem Einschlafen:

Mag sein, so bleibt es nicht, ich sag es dir,
Falls deine Lippen, ach, die ich so liebte, einst
An einen anderen geraten, wenn heftig deine Finger,
Wie meins grad eben noch, sein Herz ergreifen; und
Läg auf eines anderen Gesicht dein liebes Haar, so
Wie ichs kenne, wenn es schweigt – oder gekrümmt
Von grossen Schmerz, getrieben in die Enge
Die Worte hilflos vor der Seele stammeln
– sollt alles jemals das so sein, ich sage falls,
Dann, du mein Herz, gönn mir ein kleines Wort,
Damit ich zu ihm gehen kann und greifen seine Hände
Und sagen: nimm hin alle Glückseligkeit von mir.

Dann wende ich mich ab und hör den Grauen Vogel, der
Singt so furchtbar ferne aus dem verlornen Land.

Wolf Biermann

Sonntag, 14. August 2011

Die Taxifahrerin

Heute Morgen im Taxi, eine kurze Fahrt steht mir bevor. Die Fahrerin: eine ältere Frau mit grauen, kurzen Haaren. Sofort kommen wir ins Gespräch. Sie hat dabei die Gabe, innert weniger Minuten Bausteine aus ihrem Leben zu erzählen. Es war kein Monolog. Die Taxifahrerin fährt nur sonntags, so erfahre ich also, und dies seit 40 Jahren. Um mich der Familie zu entziehen. Also: Taxifahren als sonntägliche Flucht, aber auch als Korrektiv zum Beruf: Medizinerin an der hiesigen Universität, auf einem Fachgebiet tätig, das ich bereits vergessen habe. Und ich erfahre noch, dass sie CVP-Wählerin sei. Und dass sie allerlei Menschen in diesen 40 Jahren kennengelernt habe. Und was für welche! Schreiben sie doch ein Buch darüber, ja schreiben sie ein Buch, ich würde es sofort lesen, rufe ich ihr zu. Und ich meine es auch so.


Die Frau erzählt diese Kurzgeschichte wohl allen, die sie hören wollen. Ihre Geschichte, kompakt erzählt, gewissermassen im Taschenbuchformat, in rund 10 Minuten dargelegt und mit einer Prise Humor vorgetragen.

Der Gärtner - ein Sommermärchen

Man muss seinen Garten pflegen
Voltaire

Es war einmal ein Gärtner, der einen schönen Garten hatte. Er pflegte ihn regelmässig mit all seinem Können, und die Blumen und Früchte fühlten sich ganz wohl darin. Eines Tages entdeckte der Gärtner eine ihm bislang unbekannte Frucht. Er sah sie staunend an, er schnupperte an ihr und überlegte sich, wie sie botanisch einzuordnen wäre. Doch alles Recherchieren nutzte nichts, die Frucht blieb ihm unbekannt. Mit jedem Tag aber wurde sie schöner und geheimnisvoller, sie duftete nach Leben und Sonne und erfreute ihn so sehr, dass er sich überlegte, die Frucht zu kosten.

In diesem Augenblick, so schien es ihm, begann die Frucht leise und zärtlich zu ihm zu sprechen. "Du darfst mich kosten, aber bedenke, dass du danach wieder lange warten musst, ehe eine neue Frucht blühen wird". Er zögerte eine Weile und überlegte sich die weiteren Schritte. Nach einer ganzen Saison - die Frucht blühte immer noch in voller Pracht, war aber jetzt noch reifer und roch intensiver als zuvor - entschied er sich, die Frucht zu ernten.

Behutsam pflückte er sie, schnupperte an ihr und legte sie ganz sanft und mit leicht bebender Hand auf seine Zunge. Da umhüllte ihn ein Wonnegefühl, wie er es nie zuvor erlebt hatte. Der Geschmack der Frucht war intensiv und lieblich, es schien, als würde sein Körper und mit ihm all seine Sinne von der Frucht ergriffen. Verglichen mit dem, was er sonst liebte - Erdbeeren, Himbeeren, Brombeeren, Heidelbeeren und manch anderes mehr - war diese Frucht etwas ganz Besonderes, Einmaliges, noch nie Dagewesenes. Alles war anders an ihr, ihre Konsistenz, ihr Geschmack, ihr Äusseres, ihre Säure, rundweg alles.

Als er sie ganz ausgekostet hatte - jeder einzelne Bissen katapultierte ihn in andere Sphären -, wusste er gleichzeitig, dass er nun lange warten müsste auf eine neu heranwachsende Frucht. Ab diesem Tag pflegte er seinen Garten mit noch mehr Achtsamkeit und Liebe. Täglich schaute er nach, ob die Blumen und Früchte genug Wasser hätten und ob die Erde in einem guten Zustand sei. Und er wartete und wartete und wartete, pflegte weiterhin die Erde, schnitt die Sträucher und tat alles, damit die Frucht, seine Frucht, von Neuem zu wachsen anfing. So ging das weiter, die Jahre vergingen, die übrigen Früchte gehorchten dem Jahreszyklus und blühten und reiften wie eh, doch seine Frucht, seine ganz spezielle, einmalige Frucht, liess auf sich warten.

Der Gärtner wusste sehr wohl, dass man seinen Garten pflegen muss.

Donnerstag, 11. August 2011

Jonathan Meese

Ich mag ihn, weil er schlicht verrückt, angemessen verrückt ist.
Und man muss ihn vor allem richtig missverstehen.
Durchgeknallt? Ein bisschen schon, bestimmt.
Kommerz und Marketing? Aber klar doch, aber nicht nur.

Mittwoch, 10. August 2011

Stille Tränen

Meine Tochter ist offenbar etwas irritiert darüber, dass sie mich noch nie weinen sah. Ich habe ihr darauf erklärt, dass es verschiedene Arten von Trauer gibt, und dass es auch stille, unsichtbare Tränen geben kann.

Mit diesen Erklärungen gab sie sich zufrieden. Sie wird inskünftig nicht mehr sagen, ihr Papa hätte noch nie geweint.
Gut so.

Wieder auf dem Friedhof

Heute, nach über einem halben Jahr, war ich wieder auf dem Friedhof. Ich durchschreite mit meiner Tochter den Friedhof, einem Labyrinth gleich, auf der Suche nach dem Grab meines Vaters. Beinahe habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich es nicht auf Anhieb finde. Doch dort, ach ja, der graue Granitstein, entdecke ich es. Ich bin da, stehe davor, und denke nichts.

Oder dann doch, wie angerührt, umschwirren mich Gedankenfetzen:

all diese Menschen hier hatten ihre Träume, Hoffnungen, Ängste, Begehrlichkeiten, Allüren, Boshaftigkeiten und dergleichen mehr, was das Ego des Menschen alles hergeben kann. Was haben sie aus ihrem Leben gemacht? Hatten sie es gelebt, ihr Leben, ihr einmaliges Leben? Was taten sie mit ihren Schattenseiten? Und was dachten sie wohl, als sie auf dem Sterbebett lagen? Was bereuten sie, was nicht? Bereuten sie, was sie taten oder eher, was sie nicht taten?

Vor allem aber auch:

all diese Menschen haben uns etwas ganz Wesentliches voraus: sie haben eine Erfahrung gemacht, die uns noch bevorsteht. Bis dahin sollten wir unser Leben so gut es geht leben.

Gut und Bös

Notos hat mich zu diesem kleinen Beitrag inspiriert - Merci!
**
Also stirbt, wer Böses tat!
Wie im Leben, so im Tode
Erntest du nach deiner Saat

So singt, ja jubiliert der Chor am Schluss von Mozarts Don Giovanni. Am Schluss der Geschichte rächen sich alle an Don Giovanni, sie stechen gnadenlos zu, sie bringen ihn geradezu mit Wollust um. Weil er ihnen Böses angetan hat?

Man könnte den Spiess auch einmal umdrehen:

Don Giovanni ist nicht denkbar ohne all die Frauen, die sich von ihm willentlich, in Kenntnis der Ausgangslage, verführen liessen:

Wer Augen hat, der sieht. Wer Ohren hat, der hört.

Wollten sie aber nichts hören, nichts sehen?
Weil ihre Sehnsucht gar keine andere Möglichkeit zuliess?

Das hiesse aber auch:

Don Giovanni war in dieser Optik nicht Täter (jedenfalls nicht in erster Linie), sondern führte bloss das aus, was die anderen von ihm (stillschweigend) erwarteten bzw. sich von ihm erhofften, d.h. er erkannte bloss ihre Träume und ihre Handlungsbereitschaft und handelte dementsprechend.

Natürlich: es gibt auch klar definierte Täter und deren Opfer. Darum geht es hier nicht.

Aber jenseits dieser Wahrheit gibt es auch fliessende Grenzen:

Täter und Opfer sind als kommunizierende Röhren zu betrachten, sie gehen aufeinander zu, ja brauchen sich gegenseitig. So liesse sich Don Giovanni oder Casanova oder wie sie alle auch heissen mögen auch interpretieren.

Gut und Bös:

es ist nicht immer trivial, Beides strikt auseinanderzuhalten.

Dienstag, 9. August 2011

Mani Matter

Das existenzielle Unbehagen am Dasein, die urplötzliche Erkenntnis der per se nicht überwindbaren Einsamkeit des Individuums, die menschliche Erfahrung des in-die-Welt-geworfen-seins, all dies und noch manch Anderes mehr konnte Mani Matter in wenigen Reimen kompakt zur Sprache bringen und in allegorischen Bildern festhalten. Matter war ein Meister der Reduktion und des Schlichten, seine Texte sind wahre Fundgruben für allerlei Grundfragen menschlicher Existenz. In diesem Jahr wäre er 75 Jahre alt geworden. Er fehlt uns, der mit seinen scheinbar harmlosen (Kinder)Liedchen, die auf der akustischen Gitarre in der Regel mit nur drei oder vier Griffen gesungen werden können, längst zur Schweizer Volkskultur geworden ist.

Montag, 8. August 2011

Ein gewöhnlicher Tag

Kurz vor dem Einschlafen.

Tagesbilanz:
Mit der Tochter gespielt -- dieses und jenes geschrieben -- eingekauft und die Wäsche gemacht -- vor 50 Jahren wurde mit dem Bau der Mauer begonnen, ich war damals ein Säugling -- der langsame Niedergang der USA ist so gut wie sicher -- ich werde angefragt, ob ich Experte sei auf dem Gebiet der Rechnungslegung, was ich dankend verneine -- der Briefkasten ist so gut wie leer, aber Rechnungen sind praktisch immer dabei -- wieder habe ich es nicht geschafft, beim Grab meines verstorbenen Vaters vorbeizugehen. Grabsteine als Versuch, sich der Toten zu erinnern -- wieder Erdbeeren genascht, ich kanns nicht lassen -- ich gehe davon aus, dass auf die Schweiz noch einige gewichtige ökonomische Probleme zukommen werden. Das Leben auf der Insel als Illusion -- ich höre kaum noch etwas aus Libyen. Weil es nichts zu berichten gibt?

Ein gewöhnlicher Tag in meinen Ferien.

Neulich auf dem Spielplatz

Ich mag es, auf Spielplätzen zu sein. Dabei beobachte ich nicht nur Kinder beim Spielen, sondern auch deren Eltern bzw. Betreuer. Da sah ich neulich einen älteren Herr, den ich für den Grossvater des Kindes hielt. Prompt hörte ich rufen: Papa komm, spiel doch mit! Und Papa ging und machte alle möglichen und unmöglichen Faxen, wirkte dabei völlig überdreht. Nach einer Weile sagte ihm der Dreikäsehoch: ach Papa, Du bist s-o-o-o-o-o peinlich. Papa war etwas beleidigt, vor allem etwas ratlos.

Vielleicht sollte dieser Vater etwas weniger überdreht sein und nicht um jeden Preis seinem Kind gefallen wollen. Das Kind hat wohl intuitiv gespürt, dass sein Papa dabei war, die Kinderwelt für sich einzunehmen (wenn auch nicht willentlich), so dass das Kind gar keinen eigenen Freiraum mehr hat, weil der allzu lustige Papa diese besetzt und damit dem Kind etwas Wesentliches raubt, nämlich seinen Raum der Phantasie. Wie soll das Kind in seiner Kinderwelt zu Hause sein, wenn der Papa sich diese einverleibt? Und sich benimmt wie ein dreijähriger?

Kinder wollen in erster Linie Eltern, also Erwachsene, die auch Grenzen setzen können und keine sich anbiedernden Kumpels als Eltern, welche die Logik des kindlichen Spiels für sich einnehmen. Damit sage ich nicht, dass Eltern mit ihren Kindern im gemeinsamen Spiel nicht lustig oder ausgelassen sein sollen. Es geht mir vielmehr darum, dass Kinder Anrecht haben auf ihre Ausdrucksweise, ihr Spiel und ihren Humor und dass Eltern diese nicht nachäffen sollen. Nicht nur, weil es dann, gerade aus Sicht des Kindes, eben sehr peinlich wirkt.

Sonntag, 7. August 2011

Phantasie und Wirklichkeit

Ein Kommentar von Vanilla zu meinem letzten Beitrag führt mich zu folgenden Überlegungen:

Phantasie und Wirklichkeit sind keine Gegensätze. Sie bedingen und ergänzen sich vielmehr. Wenn wir unsere Phantasien bzw. die dahinter stehenden Muster erkennen, erkennen wir gleichzeitig auch, wo wir aktuell stehen und was uns fehlt, antreibt, beschäftigt oder was auch immer. Ein Bild, genährt aus Phantasie, kann zu einem wichtigen Motor im realen Leben werden, einem Fixstern gleich, den wir befolgen können, weil er uns eine Orientierung gibt. Es geht nicht primär darum, Bilder aus der Welt der Phantasie im Massstab 1:1 in die sog. Realität umsetzen zu wollen. Es geht darum, die dahinter stehende Idee bzw. Sehnsucht zu erkennen und ihr zu folgen - nicht im Sinne eines sklavischen, sondern eines befreienden Verfolgens, weil die Defizite des realen Lebens (und damit die Quellen der Unzufriedenheit) dank unserer Phantasiewelt entlarvt werden. Darum muss es gehen.

Wenn zum Beispiel ein Arbeitnehmer, der in seinem aktuellen Beruf unzufrieden ist, sagt, er möchte gerne Autorennfahrer werden, so kann man das belächeln und ihm reflexartig sagen: ach, du Spinner, hör auf zu träumen. Die angemessene Reaktion wäre aber, ihm die Frage zu stellen, was ihm denn an diesem Bild (Autorennfahrer) so fasziniert. Auf diese Weise wird er die tiefere Bedeutung seines Traumes entdecken und diesen auch realisieren können, wenn auch in mutierter Form.

Übrigens: der besagte Arbeitnehmer ist Bauführer geworden, weil er von der Kraft, die für ihn in einem Autorennen zum Ausdruck kommt, begeistert war. Ohne Ergründung seiner Phantasie stünde er aber beruflich nicht dort, wo er jetzt ist. Er wäre immer noch unzufrieden und unglücklich...und würde weiterhin seiner Phantasie nachträumen, statt sie zu realisieren.

Daher gilt nach wie vor:
es lebe die Phantasie !

Samstag, 6. August 2011

Neuanfang

Er stellt sich vor, wie das wäre mit dem Neuanfang. Der schwere Rucksack der Vergangenheit ist beinahe leer und liegt fein säuberlich in einer Ecke.

Was er sonst noch bemerkt:
geschmackvoll sanierte Altbauwohnung mit hohen Räumen, viel Platz, ruhig und doch zentral gelegen, alter Parkettboden, eine Veranda. Alte Möbel und Bauhaus im Gleichgewicht. Ein schöner Baumbestand. Beide würden sich auf einen neutralen Ort einigen, weil auf diese Weise der Neuanfang für beide ein wirklicher Neuanfang wäre. Sodann: der Geruch von Gemüsesuppe und Pasta. Eine geräumige Bibliothek. Ein Klavier. Draussen spielt ein Nachbarskind. Es ist Sommer. Beide haben ihre Herkunft und wollen es wagen, trotz allem. Sie fühlen sich wohl. Aufbruchstimmung.

Seine Phantasie beflügelt ihn - und lässt ihn auch ratlos zurück.

Einfach nur Ferien

Zwei weitere Ferientage mit meiner Tochter verbracht.
Abends ein Musical auf offener Seebühne, ein tolles Erlebnis.
Danach ein Wandertag.
Berge zum Greifen nahe.
Der Wasserfall: donnernd und doch sanft.
Die Tage unaufgeregt verbringen.
Die Gedanken: auch anderswo, natürlich.
Die Sinuskurve als Begleiterin.

Donnerstag, 4. August 2011

Lebensoasen (II)

Mittags am Bach, das Wasser ist kieselklar, aber kalt, die Felsen sind warm von der Sonne und die Luft riecht nach Wald, nach Pilzen, man hört nichts als das Wasser und es gibt nichts zu denken.


Max Frisch, Entwürfe zu einem dritten Tagebuch, Suhrkamp 2010, S. 103

Lebensoasen (I)

Oasen sind kleine Fluchtorte aus dem Alltag.
Orte des Auftankens in jeder Hinsicht.
Orte der Begehrlichkeiten und der Erfüllung.
Orte der Stille als auch der Besinnung.
Orte, die für einen Moment Raum und Zeit aufzuheben scheinen.

Aber auch und vor allem:
Oasen verraten uns, was wir im realen Leben bräuchten
und zeigen uns damit, was uns fehlt.

Oasen als Ort, wo sich unsere Träume und Phantasien
für einen kleinen Moment realisieren lassen.
Ohne sie können wir nicht leben.

Lebensoasen, die uns zuflüstern: so könnte es auch sein!

Mittwoch, 3. August 2011

Sehnsucht, spätabends

Nun gehe ich schlafen.
Und dabei wieder diese Sehnsucht, die mich ergreift.
Jetzt.
Und ja, ich mag sie, auch wenn sie schmerzt.

Ein Glück, dass Musik Gefühle ausdrücken kann,
die sich nicht in Sprache fassen lässt, weil die Sprache schlicht versagt.

Das Wetter: wie das Leben

Was höre ich da in letzter Zeit immer wieder jammernden Tones: Sommer, komm doch!

Ich mache da nicht mit.

Das Wetter gefällt mir, wie es gerade ist:

launisch, mal Regen, mal Sonne: wie das Leben halt.
Morgen ist ein Zwischenhoch angesagt, dann wieder instabiles Wetter: wie das Leben halt.

Auch wenn ich mich manchmal danach sehne, dass das Leben eine Gerade wäre (einer stabilen Wetterlage entsprechend) und nicht eine Sinuskurve (wie das aktuelle Wetter): ich bevorzuge die Wetterküche. Morgen ist stabiles Wetter angesagt, wie wunderbar, da erwartet mich ein Musical auf der offenen Seebühne. Und ich weiss, dass gleichzeitig ein Tief unterwegs sein wird, das scheinbar stabile schöne Wetter bald umzukippen: wie das Leben halt.

Darum:
liebes Wetter, mach mir nichts vor.
Sei wie das Leben.

Sinuskurve

Mein Leben:

eine Sinuskurve. Nicht immer kann ich souverän damit umgehen. Das Leben, dargestellt als Gerade, wäre mir lieber. Dann wäre alles berechenbarer. Keine Hochs, aber auch keine Tiefs. Kontinuität in der Gefühlswelt, Kontinuität da und dort.

Aber das Leben lässt sich nicht bändigen. Der Lebensfluss fliesst, wie er will. Das hiesse folgerichtig: einfach fliessen lassen. Ob es dann wirklich so kommt, wie es muss? Daran zweifle ich, manchmal. Und in letzter Zeit immer öfters. Da ist die Furcht, Elementares im Leben schlicht zu verpassen, nicht realisieren zu können, aus ganz unterschiedlichen Gründen: Der Zug, auf den ich lange wartete, wäre da, nur ist ein Einsteigen nicht möglich. Deshalb wohl auch die Sinuskurve.

Dienstag, 2. August 2011

Sommerabend

Was für ein schöner, milder Sommerabend.
Die Tochter ist im Bett am Lesen.
Ich sitze auf der kleinen Terrasse und nehme einfach den Augenblick wahr.
Es beginnt einzudunkeln.
Das Kerzenlicht bewegt sich im Takt der sanften Brise.
Ich will nicht wissen, woran ich denke.
Stattdessen geniesse ich das kühle Bier - naturtrüb.
Der Sommer dauert noch rund sieben Wochen, sagt der Kalender.
Meine Stimmung ist schon herbstlich eingefärbt.

Montag, 1. August 2011

Wieder Nietzsche

Und immer wieder kommt mir Nietzsche in den Sinn, als er am Silsersee in Sils-Maria sass und wartete, doch auf Nichts. Sobald man hingegen auf etwas Konkretes wartet, namentlich auf die Liebe, hat man schon verloren. Es hat keinen Sinn, auf sie zu warten. Wenn sie will, kommt sie unangemeldet auf dich zu.

Wartend, wartend, doch auf Nichts. So muss es sein, alles andere sind bloss Chimären und Quellen des Unglücks.

Notiert

Auf der Welt sein: im Licht sein.
Irgendwo Esel treiben, unser Beruf!
Aber vor allem: standhalten dem Licht,
der Freude (wie unser Kind, als es sang) im Wissen,
dass ich erlösche im Licht über Ginster,
Asphalt und Meer, standhalten der Zeit,
beziehungsweise Ewigkeit im Augenblick.
Ewig sein: gewesen sein.

Max Frisch, Homo Faber, Suhrkamp 1977, S. 199
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Ich unterstreiche namentlich:
Ewigkeit im Augenblick.

Heute also: Gesang mit Kindern, Duft nach grillierten Würsten, schwimmen im Fluss (aktuell etwas über 18 Grad), später Lichtermeer und Feuerwerk. Mit anderen Worten: mental nur hier sein wollen und nirgendwo sonst, und sei es bloss für einen Augenblick an diesem 1. August.

Zum 1. August

Ich bin Schweizer, dafür kann ich nichts. Ich könnte mir gut vorstellen, auch anderswo zu leben, in Deutschland zum Beispiel (mit Ausnahme von Bayern), Skandinavien wäre auch eine Möglichkeit, ferner Österreich (mit Ausnahme von Kärnten). Doch bin ich froh, hier zu sein. Weil die Schweiz übersichtlich und klein ist, und weil hier verschiedene Kulturen leben. Ich brauche nur in den Zug zu sitzen und schon bin ich nach kurzer Zeit in einer Stadt, in der Französisch gesprochen wird. Mir gefällt es dort, in einer gemütlichen Spelunke in der Altstadt zu sitzen und mit den Leuten auf Französisch ins Gespräch zu kommen oder in einer fröhlichen Runde französische Lieder zu singen. Neuenburg ist nun mal ganz anders als Zürich, und Genf ist anders als Chur. Und Locarno ist nochmals anders, und von Basel will ich hier gar nicht sprechen. Ich mag keinen Einheitsbrei und keine Monokulturen. Wenn ich im Engadin unterwegs bin, freue ich mich, Rätoromanisch sprechen zu hören, obwohl ich kein Wort verstehe, aber der warme Klang dieser Sprache erfreut mein Herz.

Die direkte Demokratie ist eine der besten Erfindungen überhaupt. Ich mag es, auf der Strasse von fremden Menschen angesprochen zu werden, die ein politisches Anliegen haben und dafür Unterschriften sammeln, so wie gestern eine alte Frau in der belebten Einkaufsstrasse. Ich bin, ganz ehrlich, stolz darauf, dass wir vor Jahren auch über die Abschaffung der Armee abstimmen konnten. Nach diesem historischen Abstimmungstag war die Schweiz nicht mehr dasselbe Land wie zuvor, ein frischer Wind wehte durch die Köpfe und läutete einen grundlegenden Mentalitätswandel ein. Wir müssen gelegentlich auch über unsinnige Anliegen abstimmen, etwa über ein Verbot von Minaretten. An jenem Sonntagabend musste ich mich für das Ja der Stimmenden schämen.

Meine Tochter mag den Wilhelm Tell, wie er von Schiller dargestellt wird. Dass er womöglich eine erfundene Person ist, habe ich ihr (noch) nicht gesagt, Kinder mögen nun mal Märchen und tapfere Helden, die wider das Böse kämpfen. Und Gessler war nun mal ein Bösewicht.

Die Schweiz ist ein komplexes Gebilde. Im Grunde der Dinge gibt es sie gar nicht. Jedenfalls nicht so, wie sie die Touristen zu sehen bekommen. Ich gebe zu: etwas "mehr Europa" täte unserem Land gut, doch meine ich auch im selben Atemzug: etwas mehr Schweiz täte Europa auch gut, namentlich was die (direkt)demokratische Mitbestimmung und die Rechtsstaatlichkeit anbelangt. Es wird Zeit, dass wir vermehrt voneinander lernen.