Montag, 31. Mai 2010

das kurze Glück des Moments

Spätnachmittags, die Sonne scheint für einen kurzen Moment, ansonsten viele Wolken, windig. Meine Stimmung entspricht ziemlich genau der aktuellen Wetterlage.

Vor allem: ich fühle mich leer, nicht hoffnungslos, aber müde in einem umfassenden Sinn. Wenn ich Leere empfinde, kann ich auch nicht schreiben, alles ist blockiert, das strukturierte Denken fällt schwer. Mögen all meine Wünsche in Erfüllung gehen: gut gemeinte, standardisierte Sätze, die Trost zu spenden versuchen. Allein, ich glaube je länger je mehr, dass das glückliche Leben (stark individuell und im umfassenden Sinn verstanden) schwer zu finden und vor allem selten ist. Anhaltendes Lebensglück gehört ins Reich der (kindlichen?) Phantasie, daher bereite ich mich darauf vor, (wieder vermehrt) das Glück des Moments schätzen zu lernen, kurze, euphorische Augenblicke zu erleben, die allesamt in eine vorübergehende Zufriedenheit münden (wäre dies allenfalls das Lebensgefühl Drogenabhängiger?), da jene Augenblicke eben Augenblicke sind und keinen anhaltenden Charakter haben, vielmehr entziehen sie sich unserer Existenz, kaum sind sie aufgetaucht, einer Sternschnuppe oder einem Regenbogen gleich.

Um wenigstens kurze glückliche Momente zu erleben, braucht es viel Selbstreflexion und Selbstbeobachtung: was macht mich tendenziell glücklich, was unglücklich? Weshalb bin ich in jenen Situationen glücklich, in anderen nicht? Aber auch: akzeptieren, dass Glück letztlich ein Geschenk und ein Mysterium ist, es kann, wie A., aus dem Nichts plötzlich auftauchen, um alsbald wieder im Nichts zu verschwinden (das liest sich jetzt so locker, in Wahrheit ist es eine Erfahrung, die auch weh tut). Dazu kommt: der Mensch kann nicht alles, seine Macht ist endlicher Natur. Kann ein zufriedenes Leben auch gelebt werden jenseits von Glücksgefühlen? Camus kommt mir in den Sinn, der dazu aufrief, uns (selbst) Sysiphus als glücklichen Menschen vorzustellen. Ich gestehe, dass ich noch nicht so weit bin, mir diese Vorstellung definitiv anzueignen (zeitweise aber schon, wenn ich gänzlich niedergeschlagen bin). Noch rebelliere ich zeitweise dagegen - allein, wie lange noch?

Doch selbst die kurzen Momente des Glücks sind rar, wenigstens in meinem Leben. Wenn meine Tochter über die Schönheit eines Falters strahlt, macht mich dies glücklich. Es gäbe noch andere Beispiele, gewiss. Aber ich merke, dass mir dies alles doch nicht genügt, ich möchte mehr vom Leben. Werde ich es vorfinden, dieses spezifische Glück, das eben doch etwas länger anhalten sollte als bloss einen Augenblick? Diese Frage treibt mich an und führt mich zeitweise an den Rand der Verzweiflung.

Sonntag, 30. Mai 2010

Resignation versus Gestaltungswille

An diesem Sonntagabend geht es mir einigermassen gut. Heute konnte ich auch endlich meine Rechnungen und die meiner Mutter via ebanking erledigen, ich musste mich zwar dazu aufraffen, aber nach getaner Arbeit war ich wie erlöst. Es ist oftmals ein Kampf, den ich mit mir selbst auszutragen habe, nämlich Dinge zu erledigen, die einfach erledigt werden müssen (Bewältigung des Alltags).

Ansonsten spüre ich in mir zwei widersprüchliche Kräfte bzw. Grundstimmungen: die eine will mich zu einer Passivität bewegen, will, dass ich die Ereignisse treiben lasse, dass ich also nicht aktiv in das Geschehen einschreite und alles über mich ergehen lasse. Als Gegenkraft wirkt das Rebellische in mir, jene Kraft, die einfach nicht akzeptieren ist, was ist, weil die Realität letztlich ein Konstrukt ist. Die Wirklichkeit ist jene, die wir uns zurecht legen, dies wiederum hiesse, dass jede Wirklichkeit formbar und damit veränderbar ist, da Wirklichkeit immer das Ergebnis von Kommunikation ist (Watzlawick). Tatsächlich ist nichts in Granit gemeisselt. Oder auch anders gesagt: alles fliesst.

Beide Strömungen sind in mir, kämpfen gewissermassen um die Vorherrschaft. Ich versuche, konstruktiv mit ihnen umzugehen, vermutlich wäre ein Mittelweg zwischen beiden Polen sinnvoll. Das könnte heissen: hartnäckig bleiben in seinen Zielen und Hoffnungen, wachsam sein, ohne ins Euphorische zu verfallen, die Grenzen des anderen sehr wohl respektierend, aber ihm auch etwas zumutend. Ich bin überzeugt davon, dass gewollte, also auf der Basis von Reflexionen zustande gekommene Entscheide gute Entscheide sind (da begründbar), aber sicher nicht solche, die aufgrund von Passivität zustande kommen, indem man sich einfach treiben lässt.

So wenig man nicht nicht kommunizieren kann, kann man ebenso wenig nicht entscheiden: man entscheidet immer, entweder aktiv (also nach einem bewussten Entscheidungsprozess) oder passiv (indem man es letztlich der Umwelt/den sog. Umständen/den sog. Sachzwängen etc. überlässt, wie der Entscheid ausfällt). Das Leben ist zu wertvoll, um es der Passivität zu überlassen. Daran will ich arbeiten, weil ich glaube, dass Menschen am Ende ihres Lebens bewusst gefällte Entscheide nicht bereuen, aber sehr wohl solche, die sie bloss "hingenommen", also passiv erduldet haben.

Aufgeschnappt

(...)
Ich küsse auch deine Fragen
und deine Wünsche
ich küsse dein Nachdenken
deine Zweifel
und deinen Mut
(...)
deinen Fuss
der hergekommen ist
und der wieder fortgeht
ich küsse dich
wie du bist
und wie du sein wirst
morgen und später
und wenn meine Zeit vorbei ist

Erich Fried

die Reis-Schale waschen

Den Sonntagmorgen finde ich immer etwas seltsam, namentlich dann, wenn die Wohnung gänzlich leer ist, was heute aber nicht der Fall ist (meine Tochter ist hier). Wer keinen festen Anker im Leben hat, leidet am Sonntag wohl besonders. Meine Mutter hat es insofern einfacher, als sie ein gläubiger Mensch ist. Das gibt Boden unter den Füssen, namentlich wenn es sich um Volksfrömmigkeit handelt, also in einem gewissen Sinn um einen "naiven" Glauben, der auf jede Frage die vermeintlich richtige Antwort bereithält. Gerade der Katholizismus bietet für alles und jeden den passenden Heiligen, den man von der Stube aus bequem anrufen, um nicht zu sagen bestellen kann. Der wird dann weiter schauen und Fürbitte halten. Im Protestantismus ist alles etwas komplizierter, und Protestanten sterben ohnehin allein, sie bedürfen keines Pfarrers.

Was also tun an einem grauen Sonntagmorgen, wenn existenzielle Fragen den Geist bohrend verfolgen und weit und breit kein Trost die Seele beruhigen kann? Ablenkung dürfte, einmal mehr, angesagt sein. Ich brauche jetzt eine Dusche, heissen Kaffee und Sonntagszeitungen. Und bald heisst es dann: Mittagessen zubereiten.

Im Buddhismus heisst es ganz schlicht: geh hin und wasche die Reis-Schale.

Samstag, 29. Mai 2010

gelassene Resignation

Heute Nachmittag habe ich gelesen (Zeitungen), ein neues Fahrrad gekauft (endlich) und mich um meine kränkliche Tochter gekümmert, die jetzt in die TV-Röhre guckt (KIKA). Mein Kopf ist eigentümlich leer, auch emotional bin ich irgendwie leer. Ich bin ruhig und in einem gewissen Sinn in einer resignativen Stimmung. Also: keine Verzweiflung, keine Unrast (zur Zeit jedenfalls nicht), sondern ein Gefühl von Ergebenheit macht sich breit. Manchmal möchte ich mit dem Kopf durch die Wand, möchte mit Hartnäckigkeit eine Situation ändern, gegen die Realitäten rebellieren. Das kann müde machen. Also lasse ich mich, für eine Weile zumindest, einfach treiben vom Fluss des Lebens, ich sitze in diesem Boot und habe nicht die Illusion, die Richtung beeinflussen zu können, ich lasse es einfach treiben und schaue, wohin es mich führt. Irgendwann werde ich die Ruder wieder aktiv an die Hand nehmen, genährt von der Hoffnung (oder der Illusion?), den Lauf der Dinge substanziell beeinflussen zu können. Aber ich habe einfach nicht immer die Kraft zu kämpfen. Ich lehne mich jetzt also einfach zurück, mache das, was ich machen muss (Abendessen zubereiten etc.), ansonsten versuche ich, dem illusionslosen Skeptizismus auf die Spur zu kommen: von Salis, der Schweizer Historiker, hat davon gesprochen. Ich werde dies nachlesen müssen, heute Abend, wenn alles um mich ruhig ist.

Nachtrag (2215 Uhr)

Nein, so gelassen, wie ich dies heute Nachmittag beschrieben habe, bin ich doch nicht. Abends kommt sie, diese Unruhe, sucht mich heim, lässt mich nicht bei mir sein. Dagegen hilft a) Tee trinken b) auf dem Balkon die Sterne beobachten, sofern meteorologisch möglich c) Bücher kreuz und quer durchblättern, Sätze aufschnappend, unstrukturiert und unruhig zugleich d) schreiben e) ?

Samstagmorgen

Meine Tochter ist etwas kränklich - Husten, vertopfte Nase. Sie darf also heute Morgen zu Hause bleiben, ich gehe allein einkaufen. Die Aussicht, in der Warteschlange vor der Kasse des Einkaufsladens zu stehen, beelendet mich. Der graue Morgen hingegen passt mir, weil ich damit kaum einen Kontrast zwischen innen und aussen zu erdulden habe. Ich werde nun versuchen, jede einzelne Handlung bewusst wahrzunehmen, ganz in der Gegenwart zu leben, ganz im Hier und Jetzt. Meine Gedanken und Gefühle lassen sich aber nicht leicht disziplinieren, sie fliegen mir davon und halten sich an Orten auf, die bekanntlich besetzt sind. Immerhin bin ich gewillt, mich mit mir auseinanderzusetzen. Und in der Warteschlange vor der Kasse werde ich Geduld üben, Geduld mit mir selbst und mit meinen Mitmenschen. Eines haben sie in diesem Augenblick gemeinsam mit mir: sie warten, dass sie an die Reihe kommen.

Freitag, 28. Mai 2010

vegetieren?

Ich bin soeben aus tiefem Schlaf erwacht. Manchmal braucht meine Tochter eine Begleitung während ihres Einschlafens, nun bin ich also tatsächlich mit ihr eingeschlafen - und kurz vor Mitternacht mit schwerem Kopf aufgewacht.

Heute Abend war meine Exfrau hier. Wir haben zusammen einen schweren Burgunder getrunken und dazu geplaudert. Sie will, wie ich, viel vom Leben, sehnt sich nach Liebe und Geborgenheit. Nun frage ich mich, ob es nicht sinnvoller, nein befreiender wäre, wenn man schlicht nichts mehr vom Leben erwarten würde. Einfach bloss da sein, wie eine Pflanze, in einem gewissen Sinne also vegetieren, dabei seinen Pflichten nachkommend (man funktioniert bloss noch), doch ansonsten: nichts, vor allem: bloss keine Erwartungen haben, weil nur diese Lebenseinstellung vor Enttäuschungen schützt. Das hiesse also: nur noch blosse Existenz, aufstehen, arbeiten, essen, seinen täglichen Pflichten nachgehen, einkaufen, essen, schlafen. Fertig. Also frühzeitig mit dem Leben abschliessen.

Ich kann es nicht.

Dafür leide ich am Leben. Unerfüllte Sehnsucht macht sich breit. Weinen kann ich jetzt nicht, obwohl es mir so gut täte. Ich strecke meine Hand aus und greife doch nur ins Leere. Ich bin hier und doch ganz woanders, nämlich dort, wo ich nicht sein dürfte, weil jener Raum schon lange besetzt ist. Die Türe ist fest verschlossen. Panzertüre.

Aus der Ferne ein liebevolles zärtliches Winken zu verzeichnen, und doch unnahbar.
Ich winke zärtlich zurück.
Es tut so gut, und tut so weh.

Vor dem Wochenende

Meine Tochter hat morgens nach dem Aufstehen neuerdings die Angewohnheit, Mozarts Cosi fan tutte einzustellen. Natürlich versteht sie die Handlung nicht, ich habe ihr die "grossen Linien" derselben grob vereinfacht und, so denke ich, "kindgerecht" erklärt. Sie liebt diese Oper und hat sie schon einmal in einer modernen Inszenierung auf der Bühne erlebt. Ich hatte heute Morgen allerdings wieder grosse Mühe, Mozart zu ertragen, er durchdringt mich aufs Ganze, so dass wenige Takte genügen, um mich emotional an den Rand zu drängen. Gleichzeitig ist es jene Musik, die meinen Seelenzustand zutreffend und ohne jegliche Maskerade zum Ausdruck bringen kann.

Heute Morgen werde ich mich im Büro (von wo aus ich gerade schreibe) dazu aufraffen, einen Bericht zu lesen, in erster Linie um mich abzulenken und nicht, weil ich das ohnehin tun muss. Kurz vor dem Mittagessen hole ich meine Tochter von der Schule ab, dann kochen wir zusammen, nachmittags gehen wir in ein Museum, was sie besonders liebt. Spätnachmittags ist dann noch Flötenunterricht für die Tochter angesagt. Abends dann Nachtessen auch mit meiner Exfrau.

Alltag eben.
Und so tun, als hätte ich alles im Griff.
Und, trotz allem, mit Mozart im Herzen.

Donnerstag, 27. Mai 2010

Anatomie einer Begegnung - Anfang und Abschied

Magische Begegnung
buchstäblich
von heute auf morgen
unangemeldet
wuchtig
kraftvoll
Seelen, die sich berühren
und sich ihre Gefühls- und Gedankenwelten
anvertrauen
weil die Vertrautheit vorgefunden wird
angeregte Gespräche
beredtes Schweigen
Knistern und Entspannung
Lust nach mehr
alles scheint möglich
Höhenflüge
Zärtlichkeiten
als sei man sich
schon lange zuvor begegnet
das Bedürfnis permanent zu schreiben
das Bedürfnis die Stimme des anderen
immer wieder zu hören
das Bedürfnis nach Nähe
das Bedürfnis nach Umarmungen
Hände, die sich berühren
Küsse, die sich ergänzen
Blicke voller Vertrauen
Blicke voller Zärtlichkeiten
für einen magischen Augenblick erahnen
was alles sein könnte
jetzt und danach
und doch

Schnitt - Knall auf Fall

aus Nähe wird Distanz
Küsse mutieren zu Grüssen
Schweigen
die sogenannte Ratio obsiegt
die Lebensumstände spülen alles beiseite
der Frühling kam wie der Blitz
und verabschiedet sich wie der Blitz
Kälteeinbruch
das zarte Grün
es konnte gar nicht wachsen -
was bleibt
Sehnsucht
Erinnerungen
Dankbarkeit, gewiss
vor allem aber
Traurigkeit

Doch dich vergessen
nein
das kann ich nicht

Was ich unmittelbar brauche
Distanz zu mir selbst
Kinderlachen
befreiendes Gelächter
aber auch
das Zulassen von Tränen
welche die Schmerzen der Seele
zu heilen vermögen
liebevoll mit dem inneren Kind umgehen

was ich mir für die Zukunft wünsche
innere Ruhe
Gelassenheit
vermehrte Nüchternheit
Mut zum Skeptizismus
vermehrte Kontrolle meiner Emotionen
ich ahne es bereits
dies wird kein Spaziergang werden

nun werde ich
aus dem Büro schleichen
so tun
als hätte ich alles im Griff
die roten Augen
sind Resultat meiner Sonnenallergie
einkaufen
die Tochter abholen
halt wieder so tun
als hätte ich alles im Griff

Nachtrag zum heutigen Tag (2100 Uhr)

Die Tochter schläft tief und friedlich. Mein Gemütszustand: labil, ein Auf und Ab. Was mir zur Zeit nicht gelingt: mich zu entspannen. Ich bin eine Mimose und reagiere gereizt auf meine Umwelt. Ich sollte noch in die Waschküche gehen, mag aber nicht, schiebe meine Pflichten vor mich hin. Ich versuche, den Abend trotzdem so produktiv wie nur möglich zu nutzen, vielleicht klappt es mit Lesen. Sinnlichkeit und Erotik interessieren mich zur Zeit überhaupt nicht, ebenso wenig interessiere ich mich für das Weltgeschehen, die Zeitung rühre ich gar nicht an (mit Ausnahme des Feuilletons). Ich bin, mit anderen Worten, ganz auf mich bezogen, ich weiss, dass dies ungesund ist und nirgend hinführt, aber es ist aktuell nun mal so.

Morgen Nachmittag hat meine Tochter schulfrei, also werde ich mit ihr etwas unternehmen, je nach Wetter drinnen oder draussen. Die aktive Auseinandersetzung mit meiner Tochter hilft mir, einen Weg des Ausgleichs zu finden, weil sie mich immer wieder mit Fragen konfrontiert, volle Aufmerksam verlangt und mich immer wieder zu verzaubern vermag. Es gelingt mir aber nicht immer, mich ganz auf ihre Welt einzulassen. Ich werde es morgen jedenfalls wieder versuchen. Zuvor hoffe ich auf eine einigermassen gute Nacht.

Im Labyrinth

Ich sitze in meinem Büro und komme eben von einer einstündigen Besprechung zurück. Was ich dabei fühlte: profundes Desinteresse, aber auch: mangelnde Konzentration. Was sehe ich um mich: da wäre zum einen der Platzregen, der sich über die Stadt ergiesst. Ein befreiendes Gefühl. Im weiteren: eine offene Bürotüre, ich höre meine Kollegen und Kolleginnen, wie sie telefonieren, irgendwelche Unterlagen auf den Kopierer legen, auf dem Computer arbeiten, einer monotonen, trostlosen Melodie gleich, die mich abzulenken vermag. Dabei müsste ich einen wenn auch kleinen Bericht lesen, an dem ich auch mitgearbeitet habe. Im weiteren habe ich vor einiger Zeit eine Einladung bzw. eine Anfrage erhalten, einen Workshop in Strassburg zu leiten. Allein der Gedanke, dies tun zu müssen, beelendet mich: die Vorbereitungen, die Anreise, die Durchführung, die Fachgespräche, dann der smalltalk, Mittagessen, Abendessen, wieder Gespräche, Bezug des Hotelzimmers - um spätestens dort die geballte Leere (oder sollte ich von Ekel sprechen?) in all ihrer Wucht zu spüren. Ich beobachte mich, wie ich mich mental im Kreis bewege.

Ich sehe mir die Zeichnungen meiner Tochter an: Prinzessinnen, Fische, Berge, dann einen Regenbogen, Sonne, Mond, ein Krokodil, zwei Giraffen, Pflanzen, ein Vogel. Ferner sehe ich mir die vielen Akten an, die in meinem Büro gelagert sind. säuberlich gestapelt, teilweise auch chaotisch angeordnet. Bald ist Mittagspause, ich werde durch die Stadt laufen, ohne Ziel, ich werde mich treiben lassen und schauen, wohin mich die Reise hinführt: Altstadt? Vielleicht. Oder an den Fluss? Auch möglich. Buchhandlung? Wahrscheinlich schon. Appetit? Nein.

Das Gefühl, mitten im Labyrinth zu sein, stellt sich ein. Es nimmt mich auf und lässt mich -folgerichtig- im Ungewissen. Ich lasse das Gefühl bewusst zu, ich unterdrücke es nicht, ich will mich ihm stellen. Meine Unrast treibt mich an. Ich muss aufstehen und gehen. Als Vater weiss ich, dass ich wieder zurück kommen muss.

Mittwoch, 26. Mai 2010

in Erwartung der Nacht

Ich brauche im Grunde der Dinge nicht viel, um glückliche Momente zu erleben. Manchmal genügt ein schlichter zärtlicher Gute-Nacht-Kuss in Form weniger, aber ehrlich gemeinter Sätze. Heute werde ich vermutlich gut schlafen können, die innere Unruhe, die mich namentlich abends oftmals heimsucht, scheint sich, zumindest heute (dafür bin ich dankbar), zu legen.

Vom Türhüter

Gerne würde ich nach dem Wendepunkt meines Lebens greifen, ich sehe ihn, fühle ihn, tapse nach ihm. Unweigerlich kommt mir dabei Kafkas Parabel "vor dem Gesetz" in den Sinn, die Geschichte jenes Mannes, der Eintritt begehrte in das Gesetz, doch all das Betteln nützt ihm nichts, der Türhüter verweigerte ihm den Zutritt. Kurz vor seinem Tod sagt ihm dieser jedoch, der Zutritt sei allein für ihn bestimmt gewesen, nun schliesse er aber die Türe endgültig zu.

Der Mann liess sich durch den Türhüter entmutigen, er wagte nicht, den entscheidenden, sprich lebensbejahenden Schritt zu tun und hinter die Türe zu schauen, statt dessen verhielt er sich passiv, ängstlich, die Niederlage antizipierend und herbei redend. Der Mann vor dem Gesetz ist auch Teil meiner selbst, der Türhüter in mir erschwert mir den Zutritt zur ersehnten Türe, so dass ich zur Resignation neigen und mein Handeln auf eine passive, abwartende Haltung reduzieren kann. Manchmal rebelliere ich mit geballter Kraft dagegen an, lasse mich aber dann doch zu schnell entmutigen. Natürlich weiss ich, dass das Leben von uns mehr abverlangt, nämlich Mut zu haben (im umfassenden Sinn): Mut zur Wahrheit und, elementar, Mut, sein Leben zu leben, sich nicht von inneren und äusseren Zwängen -und damit vom (inneren) Türhüter- entmutigen zu lassen. Schöne Worte, allein die Umsetzung fällt nicht immer leicht, und oftmals glaubt man, vor dem berüchtigten Berg zu stehen. Wie gut, allzu gut kenne ich dieses Gefühl der Ohnmacht.

Was für eine schreckliche Erkenntnis muss es für den Mann gewesen sein, als er ganz am Schluss seines Lebens erfährt, dass er sein Leben hätte leben können, wäre er nur seinem Weg gefolgt: die Türe –seine Türe!- stand ihm –nur ihm!- offen, er hätte sie nur betreten sollen und sich nicht vom Türhüter einschüchtern lassen. Wenn es eine Hölle gibt, dann jene: am Schluss seines Lebens das nicht gelebte Leben Revue passieren zu lassen und sich dessen bewusst zu werden. Genau davor will ich mich schützen, wissend und ahnend, dass ich dann und wann trotzdem das Verhaltensmuster des Mannes vom Lande annehme - und darob beinahe verzweifle.

Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. «Es ist möglich», sagt der Türhüter, «jetzt aber nicht.» Da das Tor zum Gesetz offen steht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: «Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kam nicht einmal ich mehr ertragen.» Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, daß er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: «Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.» Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergißt die andern Türhüter, und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zuungunsten des Mannes verändert. «Was willst du denn jetzt noch wissen?» fragt der Türhüter, «du bist unersättlich. » «Alle streben doch nach dem Gesetz», sagt der Mann, «wieso kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?» Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: «Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.»

Franz Kafka

Dienstag, 25. Mai 2010

Bewältigung des Alltags

Ich hatte mir vorgenommen, eine Schreibpause einzulegen, aber das haut nicht hin. Ich bin offensichtlich schreibsüchtig, weil schreiben in der Tat eine Notwehr ist gegen die Erfahrung der Ohnmacht (Max Frisch).

Heute war mein Arbeitstag sehr ruhig, nachmittags eine Sitzung. Routine. Spektakuläres blieb aus, was mir nur recht ist. Den schönen Sommertag konnte ich einigermassen geniessen, Mittags war ich mit meiner Exfrau essen gegangen. Thema am Mittagstisch (einmal mehr): Seelenverwandtschaft. Ich bin froh, dass ich mich zu diesem Thema austauschen kann, da nicht wenige mit dieser Thematik wenig bis gar nichts anfangen können. Wer die Erfahrung nicht kennt, kann den spezifischen Zauber, der damit verbunden sind, nicht nachvollziehen.

Mein aktueller mentaler Zustand würde ich als schwankend bezeichnen. es ist ein stetes auf und ab. Bewusst lasse ich die verschiedenen emotionalen Zustände zu, ich unterdrücke sie nicht, was ich vor wenigen Jahren noch getan hätte (mit all den negativen Begleiterscheinungen). Natürlich versuche ich, unproduktives Grübeln nicht zuzulassen, Unproduktiv ist es dann, wenn meine Gedanken sich im Kreis drehen bzw. sich im Labyrinth von Spekulationen verlieren. Dagegen ist das bewusste Zulassen der jeweiligen Emotionen nur ein Gewinn, da es mich zu meinem Innern führt. Ich mag meine Sehnsucht nicht unterdrücken, ich lasse sie bewusst zu, spüre ihr nach und lebe mit ihr. Es stellt sich dann eine gewisse Melancholie ein, ich wünsche mir dann in solchen Situationen die unmittelbare Nähe zu A, also jener Frau, mit der ich mich verbunden fühle. Nicht selten ist mit diesem Gefühl auch jenes der Traurigkeit gekoppelt. Auch die lasse ich zu, ohne mich in ihr zu verlieren (was mir allerdings nicht immer gelingt). Das Zulassen der Gefühle ermöglicht Selbsterkenntnis und trägt wesentlich zur Annäherung an die Frage bei: was wünsche ich mir, was fehlt mir, wonach suche ich?

Gestern bin ich erschrocken, als meine Tochter bemerkte: Papa, du lachst ja gar nicht mehr. Dieser Satz hat mir weh getan, weil die Tochter sich offensichtlich Sorgen um ihren Papa macht (ist er krank?). Da gilt es, sich aufzuraffen und ganz und gar im Augenblick zu leben. Ich musste mich gestern wirklich aufraffen und habe den ganzen Nachmittag mit ihr im Freibad verbracht, war mit ihr im Wasser, im Wellenbad, am Herumalbern, Verstecken spielen. Das sind Übungen im Loslassen. Abends dann eine Pizza beim Italiener. Diese Woche ist meine Tochter bei mir. Das diszipliniert mich, weil ich meine Verantwortung wahrzunehmen habe. Ich liebe meine Tochter über alles, sie verfügt über einen feinen Humor und entwickelt bereits einen gewissen Sinn für die Groteske, was sich namentlich an ihren Zeichnungen ablesen lässt. Sie ist im besten Sinne des Wortes ein freches Mädchen, das gedeiht und gerne lebt.

So lebe ich also zur Zeit: aufstehen, duschen/rasieren, Frühstück vorbereiten, die Kleine wecken, sie zur Schule bringen, zur Arbeit gehen, Mittag essen, Arbeit, einkaufen, die Kleine von der Tagesschule abholen, nach Hause gehen, das Abendessen zubereiten...dabei stets dem Diktat der Uhr unterworfen. Was mich am meisten stört ist der unruhige Schlaf und das nächtliche Aufwachen. Abends nehme ich einen sog. Beruhigungstee, der, immerhin, etwas hilft. Was zur Zeit schwierig ist: Musik bewusst wahrzunehmen. Namentlich meinen täglichen Begleiter, Mozart, kann ich zur Zeit nicht über mich ergehen lassen, weil ich mich sonst ganz verlieren würde in meinen Emotionen und Sehnsüchten. Seine Musik übt eine starke Kraft auf mich aus und treibt mich zeitweise an den Rand des Erträglichen. Dagegen kann JS. Bach meine Sehnsucht transformieren, er holt mich ab und lässt mich auf eine ruhige Welle forttragen ins Reich der Träume, der Liebe und der Hoffnungen. Ich höre abends das musikalische Opfer oder die Kunst der Fuge.

Montag, 24. Mai 2010

beseelte Momente - ein erster Rückblick

Dunkle Nacht, ich kann wie erwartet nicht schlafen. Szenen der kürzlich erfolgten Begegnung mit meiner Seelenverwandten -es kommt mir vor, als sei es schon eine längere Zeit her- gehen mir durch den Kopf und haben sich in meinem Herzen eingebrannt:

Wie sie - ich will sie an dieser Stelle A. nennen - mir liebevoll die Hand streichelt, wie sich unsere Blicke den ganzen Tag lang begegnen. Dieses zeitweise beredte Schweigen zwischen uns, weil Worte schlicht überflüssig waren und nur gestört hätten. Wie ich A. unten am Fluss ganz schlicht in meinen Armen halte, wie sich hie und da unsere Küsse wie ganz selbstverständlich und voller Vertrautheit begegnen und ergänzen, wie sie sich an mich anlehnt und ich ihr sanft über das Haar streichle. Ja, das sind magische Momente der Verbundenheit, glückliche Momente, die Liebe, die ich für diesen Menschen empfinde, durchdrang meine ganze Existenz.

Ich ahne aber schon dunkel, dass dieses Geschenk des Lebens nur eine kleine Leihgabe desselben war, ich durfte für einen kleinen Moment meiner Seelenverwandten ganz nah sein, ich habe vor allem das grosse Lebenspotenzial gespürt, das zwischen uns vorhanden wäre. Die Vorstellung (ja das Akzeptieren), dass dieses Potenzial aufgrund der Lebensumstände -ihrer Lebensumstände- brach liegen muss, zerreisst mir das Herz. Nun habe ich eine Ahnung davon, wie es sein könnte, wenn man mit seiner Seelenverwandten den gemeinsamen Wendepunkt des Lebens wagen würde: das Leben im Konjunktiv als Ausdruck ungelebten Lebens.

Ich glaube, dass ich nun eine Schreibpause einlegen muss. Ich will und ich muss der Intensität dieser in diesem Ausmass für mich noch nie da gewesenen Erfahrung nachspüren, die sprachliche Umsetzung und Verarbeitung derselben vermag, zumindest in der jetzigen Phase, nicht wirklich weiter zu helfen und jene beseelten Momente adäquat wiederzugeben. Wann ich wieder fähig bin zu schreiben, weiss ich nicht.

Ich bin, bei allem Schmerz (Tränen laufen mir nun über die Wangen, die die seelischen Schmerzen etwas zu lindern vermögen), dem Leben unendlich dankbar, A. begegnet zu sein.

Sonntag, 23. Mai 2010

Leere

Ich war den ganzen Tag lang draussen mit meiner Tochter und ihrer Mama, wir waren auf einer Wanderung, haben dabei gespielt, geschwiegen, diskutiert. Nun bin ich wieder zu Hause. Ich mag heute Abend nichts mehr tun, nicht lesen, nicht Musik hören, ich kann keinen Film sehen, nichts. Auch mag ich nicht schreiben, dazu fehlt mir die Kraft und damit die Auseinandersetzung mit mir selbst. Schlafen kann ich auch nicht. Ich bin irgendwie ausgelaugt, traurig. Was ich noch spüre: Leere und existenzielle Einsamkeit. Ich ahne schon, was für eine Nacht mir bevorsteht. Morgen steht eine weitere Wanderung auf dem Programm, übermorgen beginnt die Arbeitswoche. Ich mag nicht daran denken, aber ich weiss natürlich, dass ich funktionieren muss, umso mehr, als ich Vater einer Tochter bin und damit meine Verantwortung wahrnehmen muss. Ich finde ganz ehrlich, dass das Leben oftmals hart ist, unbarmherzig, gnadenlos, in dem die Liebe sich nur schwerlich entfalten kann. Daran nage ich, oftmals verzweifle ich beinahe daran. In solchen Situationen wünsche ich mir meine persönliche Mauer zurück, hinter die ich mich verschanzen und frei von Verletzungen leben kann. Aber gleichzeitig weiss ich, dass sich die Seele entfalten will und sich nicht einsperren lässt.

Pfingsten

Diese Nacht war ich um halb zwei wach. Ich hasse diese Momente des Wachwerdens mitten in der Nacht, weil der "Anschlussschlaf" oftmals auf sich warten lässt. Ich verbringe dann mühsame Momente, höre die Viertelstunden der nahen Kirchenuhr schlagen. Irgend wann bin ich dann wieder eingeschlafen.

Mein Befinden heute Morgen: schlichte Traurigkeit, müde Augen, eine gewisse Resignation macht sich breit. Das Wetter zeigt sich von seiner besten Seite, die Vögel zwitschern laut und deutlich, das Grün wird immer kräftiger. Ich werde heute eine Wanderung mit meiner Tochter und ihrer Mama unternehmen, am Ufer des Flusses wird es ein Picknick geben, und ich werde den Feuermeister mimen und die Würste über die Glut halten. Wo Rauch, da Feuer? Nur dann, wenn genug Sauerstoff -und damit auch Leben- vorhanden ist.

Was mir zur Zeit fehlt:
Gedankendisziplin, Einsicht in die Notwendigkeit, Gelassenheit, innere Ruhe, Vertrauen in das Leben.
Statt dessen: Rastlosigkeit, Sturheit, starke Gefühle, Sehnsucht, Melancholie.

Momente, in denen ich zerstreut bin (rede, womöglich scherze), gleichsam nüchtern, und dann folgen plötzlich unsagbar heftige Emotionen, bis hin zu Tränen
R. Barthes, Tagebuch der Trauer, S. 39

Samstag, 22. Mai 2010

Samstagabend

Samstagabend, Sonnenuntergang, blauer Himmel. Welch ein Kontrast zu meinem momentanen Innenleben. Und trotz allem, ich hatte einen schönen Tag erleben dürfen, ohne Verdrängung, aber auch mehr oder weniger aufmerksam im Hier und Jetzt lebend.

Ich lese zur Zeit vieles kreuz und quer, dies auch als Resultat meiner Unruhe. Heute habe ich mit dem "Tagebuch der Trauer" von Roland Barthes (München 2010) begonnen. Ich kannte den Autor bisher nicht, er lebte vorwiegend in Paris und war als Kultur- und Literaturtheoretiker tätig. Seine Einträge berühren mich, seine Sprache vermag die Urkraft und das Mysterium von Trauer und Verzweiflung auf den Punkt zu bringen. Das Tagebuch spricht mich an, manchmal hält es mir auch den Spiegel vor. So lese ich auf S. 111: "es heisst, die Zeit lindert den Schmerz, die Trauer - Nein, die Zeit lässt nichts vergehen; sie lässt nur die Empfindsamkeit in der Trauer vergehen". Noch schlichter: "Der Kummer, wie ein Stein, der mir am Hals hängt, zuinnerst" (S. 116).

Was ich jetzt tun werde: die TV-Kiste in Betrieb setzen und schauen, was kommt. Was ich jetzt zuletzt gebrauchen könnte: Sauglattismus und es-kommt-schon-gut-Parolen.

Trost

Heute Morgen war ich zu Besuch bei meiner Exfrau (wie üblich am Wochenende, entweder kommt sie zu mir oder ich bin bei ihr), während unsere Tochter bei einer Freundin übernachtet hat und somit nicht anwesend war. Meine Exfrau weiss über meine Geschichte Bescheid. Ich habe während des Morgenessens, zwischen Kaffee, Käse und Marmeladenbrot, wie ein Schulkind in ihrer Gegenwart zu heulen begonnen (nicht laut, dafür optisch wahrnehmbar), weil sie mich wie ihre eigene Hosentasche kennt und sofort registriert hat, was bei mir emotional abgeht. Sie hat mich wie eine Schwester (oder Mutter?) getröstet, hat mich in ihre Arme genommen und mich liebevoll über den Kopf gestreichelt, ja, es tat mir gut. Sie weiss, wovon ich rede, da sie in einer ähnlichen Lebenssituation ist. Sie hat mir dann ihre Geschichte nochmals erzählt, gewisse Begebenheiten im Sekundenstil, ich konnte alles nachvollziehen, restlos. Da sassen wir also, zwei Menschen, die ihre Seelenverwandten gefunden haben, die ihrerseits aber in einer anderen, sprich gebundenen Lebenssituation sind.

Wir sind uns einig: solche Begegnungen wählt man sich nicht aus, weder was den Zeitpunkt noch die Person anbelangt, sie werden vor-gefunden, haben ihre eigene Dynamik und tragen namentlich dazu bei, die eigene Seele in ihrer gesamten Tiefe auszuloten. Solche Begegnungen sind von unschätzbarem Wert, sie tragen wesentlich zur Klärung der Aufforderung bei: krieg' raus, wer du bist. Schon allein deshalb ist es ein Geschenk, jenem Menschen zu begegnen, auch wenn es dabei schmerzt. Schmerz gehört nun mal zum Leben, Schmerz ist ein treuer Begleiter des Menschen - weil Menschen lieben und damit auch leiden können.

Im Durcheinandertal

Ich-liebe-eine-verheiratete-Frau. Dieser Satz verfolgte mich unentwegt auf der Rückreise, und er lässt mich seither nicht mehr los, er raubt mir den Schlaf und fordert mich heraus. Ich habe diese Nacht vier Stunden geschlafen, nun bin ich hellwach und denke wieder an jene Frau, die in einer gänzlich anderen Lebenssituation ihr Leben lebt - zusammen mit ihrem Mann (ja, so ist es). Ich kann meine Gefühle trotzdem nicht einfach abstellen, einem Zeitungsabonnement gleich, so funktioniere ich nicht. Natürlich kannte ich von Anfang an die "Begleitumstände", aber ich habe mir das nicht ausgesucht, es war der berühmte Blitz, der mangels Blitzableiter (die fehlende Mauer lässt grüssen) voll eingeschlagen hat und dabei seine Wirkungen nicht verfehlte.

Was ich möchte: akzeptieren, was ist. Das fällt mir nicht leicht (gelinde gesagt), ich gebe es zu, aber daran führt kein Weg vorbei (Wunschdenken?). Auch mache ich mir keine Illusionen, was eine gemeinsame Zukunft anbelangt - Ich merke beim Schreiben dieses kleinen Satzes: es tut weh, dies zu schreiben und damit zu denken, weil das Denken nicht mit meinen Gefühlen, die ich für sie empfinde, übereinstimmt. Die Sehnsucht ist da und lässt sich nicht wie eine Fliege vertreiben. Will ich sie überhaupt vertreiben? Auch wenn ich es wollte, ich kann es nicht.

Bin ich zu sehr "Gefühlsmensch", zu sehr Werther? Wo bleibt die Ratio, wo bleibt meine protestantische Nüchternheit? Sollte ich die Mauer wieder um mich bauen, die ich einst auch hatte und die mich zwar schützte, aber auch krank machte? Was ich beim Durchwandern des Durcheinandertals jedenfalls weiss: ich muss meinen Alltag bewältigen, meinen Pflichten nachgehen. Das fällt mir nicht immer einfach, manchmal fehlen schlicht auch die Kraft und die Lebensfreude, dann vermögen nur noch stille Tränen Linderung herbeizuführen, immerhin. Das Pfingstwochenende steht an. Ob ich die Gelegenheit nutzen werde, all meine Gefühle zu verdrängen? Nein, das schaffe ich nicht (will ich auch nicht), aber ich kann mich etwas ablenken, indem ich mit meiner Tochter etwas unternehme. Zwar erwischt sie mich manchmal dabei, wie ich gedankenversunken emotional anderswo bin, aber ich reisse mich dann jeweils wieder zusammen. Kinder merken viel, sie haben noch einen Sinn für das Unausgesprochene, mehr als Erwachsene.

Ich-liebe-eine-verheiratete-Frau. Nicht irgend eine, sondern meine Seelenverwandte.
Das tut so weh und tut so gut.

Freitag, 21. Mai 2010

endlich

Der kleine Koffer ist gepackt
der Zug wird bald kommen
um mich mitzunehmen
endlich
für einen kleinen Moment
die Sehnsucht stillen
wissend
dass die Sehnsucht nur
für einen Augenblick gestillt werden kann
wissend
dass sie danach umso stärker sein wird
endlich
für einen Augenblick sich ganz hingeben können
die Schere im Kopf ablegen
der Ratio ein Schnippchen schlagen
weil die Ration allein nie genügen kann
hoffend
dass Träume auch in Erfüllung gehen können
Phantasien zulassen
wissend
dass Liebe auch schmerzen kann
nicht an morgen denken
nicht im Konjunktiv denken
nur noch spüren wollen
für einen kleinen Moment
gänzlich verschmelzen können
mit jenem Menschen
mit dem man verbunden ist
nicht wissend
was morgen sein wird
und wenn doch
dann dies
dass die Sehnsucht brennt
und sich nicht bändigen lässt

Mittwoch, 19. Mai 2010

Seelenverwandtschaft

Es ist ein sonderbares,
einmaliges,
berührendes Gefühl,
seiner Seelenverwandten
begegnen zu können;
Nichts und niemand
kann dieses Gefühl
in den Schatten stellen
Nichts und niemand
kann mit diesem Gefühl
in Konkurrenz treten;
wenn nur noch
der eine Wunsch dominiert
seiner Seelenverwandten
ganz nah zu sein
sie zu spüren
berühren
riechen
streicheln
ihr die Hand zu reichen
und ganz und gar
im Augenblick verharren
merken
wie die Wärme den gesamten Körper
erfasst
jede Zelle ernährt
und der innere Frieden
gefunden wird

Dienstag, 18. Mai 2010

Meine Mutter wird 86

Meine Mutter wird morgen 86 Jahre alt. Ein stolzes Alter. Ich werde mit ihr zu Mittag essen gehen und ein kleines Geschenk überreichen. Ich bewundere im Grunde der Dinge meine Mutter, wie sie ihr Leben meistert. Zwar jammert sie dann und wann, aber grundsätzlich ist sie zufrieden. Sie schmeisst allein ihren Haushalt (mit externer Hilfe einmal in der Woche), geht einkaufen, erledigt ihre Wäsche. Die Einzahlungen erledige ich via ebanking.

In ihrem Alter führt man keine Agenda mehr, man hat keine Zukunftsprojekte, man lebt mehr oder weniger von einem Tag zum anderen. Wie verbringt meine Mutter ihren Alltag? Ich würde sagen: recht strukturiert, mit fest eingebauten Ritualen (Kaffee trinken in der Confiserie um 0900, einkaufen in der Stadt, gegen halb elf nach Hause gehen, etwas Kleines essen, nachmittags zu Hause ausruhen, fernsehen, spazieren, vielleicht ein kurzer Spaziergang zum Friedhof, nach Hause gehen, etwas Kleines essen, schlafen). Einmal in der Woche ist sie einen Nachmittag lang mit meiner Tochter unterwegs - das ist jeweils ihr Highlight der Woche.

Ist meine Mutter einsam? Manchmal, sagt sie mir. Aber sie findet Trost in ihrem Glauben (sie ist katholisch), immerhin. Ich bohre nach: was heisst für dich Einsamkeit? Sie überlegt, dann: es fehle ihr halt schon manchmal ein Mensch, der zuhöre, der mit ihr esse, mit dem man sich austauschen kann. Also Freundschaft, oder, ich übersetze es in meinen Worten: es fehlt ihr die Hand, die man halten kann, streicheln kann, die Schulter, an die man sich anlehnen kann. Sie hat zwar ihre Freundinnen, aber diese Beziehungen bleiben Kaffee-und-Kuchen-Beziehungen, das heisst, Beziehungen letztlich ohne Vertrautheit. Sie beklagt sich auch über ihre Vergesslichkeit, weiss plötzlich nicht mehr, wo sie ihre Wohnungsschlüssel hat, was sie vorgestern gemacht hat oder ob sie nun am Mittwoch oder Donnerstag zum Kaffee eingeladen ist. Und sie hat oftmals Angst. Es ist eine diffuse Angst, eine Angst ohne erkennbares Gesicht, eine Angst, die sie nicht näher beschreiben kann.

Genau diese Aspekte sind es, die mich manchmal erschaudern lassen, wenn ich über das Alter nachdenke: älter zu werden ohne Boden unter den Füssen zu haben, ohne emotional abgesichertes Koordinatennetz mit dem Gefühl der absoluten Leere, einer Spinne gleich, die sich fallen lässt und nur noch den freien Fall erlebt. Und dann überlege ich mir, wo ich wohl mit 86 sein werde (falls ich überhaupt dieses Alter erreiche), wie meine Lebenssituation dannzumal aussehen wird. Ich weiss: solche Gedankenspiele sind Mumpitz, ich habe im Hier und Jetzt zu leben. Aber wenn ich die Zeit wahrnehme, spüre ich wieder -als Metapher- diesen verfluchten Zug, der mit IC-Geschwindigkeit durch die Gegend braust und mir sagen will: das Leben ist kurz, mach was draus und erkenne die Möglichkeiten des Lebens. Ich wüsste sehr wohl, was mir gut täte, aber ob es sich realisieren lässt, weiss ich nicht, und dieses Nichtwissen ertrage ich nicht immer mit derselben Gelassenheit.

Ich werde also morgen mit meiner alten Mutter tafeln gehen und den Moment geniessen. Ich werde mich ihrer Welt stellen und genau zuhören. Und ich werde ihr erzählen, dass es mir eigentlich ganz gut geht, dass mein Herz genau weiss, was es will und was es sich wünscht. Und wenn meine Mutter bei irgend einem Heiligen für mich beten oder in der Kirche eine Kerze anzünden will, auf dass meine Wünsche in Erfüllung gehen mögen: ich werde, selbst als Protestant, nicht dagegen protestieren.

Montag, 17. Mai 2010

Zeichnungen zum Auftakt des Tages

Meine Tochter hat morgens das Bedürfnis, nach dem Frühstück noch etwas zu zeichnen, ehe es zur Schule geht.





Das Schwarz-Weiss-Bild gefällt mir besonders gut und bringt mich zum Schmunzeln (ich habe ihr kürzlich Dürrenmatt-Bilder gezeigt, deshalb die Strichmännchen mit und ohne Kopf .-. Vielleicht dürfte dieses oder ein ähnliches Bild die Quelle der kindlichen Phantasie sein: http://ead.nb.admin.ch/html/fd/fdabi_48-8.html. Vgl. auch hier: http://ead.nb.admin.ch/html/fdabi.html








Ihre Zeichnungen sind für mich stets ein Aufsteller, und beim Betrachten der schlichten Zeichnungen bekomme ich gleich die gute Laune. Kinder können uns Erwachsenen mit ihrer Unbeschwertheit anstecken, man muss nur dazu bereit sein und die kleinen Dinge des Lebens immer wieder entdecken.

Samstag, 15. Mai 2010

Nacht

die Nacht kann unbarmherzig sein
einsam
erdrückend
zäh ist ihre Zeit



die Nacht kann banal sein
sie fliesst dahin
ehe man sich besinnt

die Nacht ist sinnlich
berauschend
erhaben
wenn
verwandte Seelen sich berühren

Freitag, 14. Mai 2010

Menschen gehen schlafen

Menschen gehen schlafen
die einen gehen allein ins Bett
die anderen zu zweit

allein im Bett
gähnende Leere
auf der linken und der rechten Seite
keine Hand
die berührt
keine Hand
die streichelt
keine Lippen
die liebevoll küssen
und einen Sturm auslösen
keine Worte
die verzaubern
gähnende Leere
nicht nur im Bett
die Sehnsucht nagt
das Verlangen ist da
die ganze Lust droht
die Brust aufzufressen
Stille;
von weitem der sachte Lärm der Nachtzüge -
Melancholie

zwei Menschen gehen schlafen
sie teilen sich das Bett
er liest die Sportzeitung
sie löst Kreuzworträtsel
oder umgekehrt
er liegt links von ihr
sie liegt rechts von ihm
oder umgekehrt
jedenfalls immer gleich
die Füsse berühren sich gegenseitig
oder auch nicht
die Hände begegnen sich
oder auch nicht
Küsse werden ausgetauscht
oder auch nicht
Lichterlöschen
kurze Berührungen
kurzer Wortwechsel
den Kindern geht es gut
ja
die Kinder schlafen
sie berührt ihn dort
wo er es gerne hat
mechanisch
er berührt sie dort
wo sie es gerne hat
mechanisch
sie küssen sich
mechanisch
Lust macht sich kurz bemerkbar
da
sie lässt es geschehen
zwei mal in der Woche
manchmal auch drei mal
immer
nach dem Kreuzworträtsel
und nach der Lektüre
der Sportzeitung
ansonsten
Leere
das Verlangen ist da
die Sehnsucht nagt
die ganze Lust droht
die Brust aufzufressen
Stille;
von weitem der sachte Lärm der Nachtzüge -
Melancholie

Dienstag, 11. Mai 2010

Vernarrt

Ich bin verliebt - ich sage dies in einem nüchternen Zustand. Es ist "einfach passiert", nichts deutete vor wenigen Wochen darauf hin, es geschah buchstäblich "unbeabsichtigt". Die Heftigkeit und die Wucht der Gefühle sind gewaltig und beeindrucken mich. Auch wenn ich wollte: ich kann mich nicht dagegen stemmen. Es ist ein berauschendes Gefühl, das mich aufwühlt und mich antreibt. Ich schlafe wenig, ich brauche offenbar weniger Schlaf als sonst. Ich spüre einen Vulkan in mir, der daran ist, auszubrechen.

Sehnsucht treibt mich an: das Bedürfnis zu schreiben, das Bedürfnis zu telefonieren, das Bedürfnis nach Nähe ist omnipräsent und zieht sich wie ein roter Faden durch meinen Alltag. Aber gleichzeitig bin ich mir auch der Begleitumstände bewusst, die alles andere als einfach sind. Ja, die Umstände, die Sachzwänge. Die lassen sich nicht wegzaubern. Ich lasse mich dadurch nicht verrückt machen, sondern stelle mich dem Fluss des Lebens. Ich muss auch, ganz im Sinne Dürrenmatts, mit der schlimmstmöglichen Wende rechnen, die dann eintreten würde, wenn, ganz trivial gesprochen, keine Zukunft möglich ist bzw. weil die Umstände sich als die stärkere Kraft erweisen. Ich habe es einfacher, ich bin ungebunden und dadurch "freier". Das heisst, ich muss mit Demut akzeptieren, was das Leben mit mir beabsichtigt. Das hat mit Fatalismus nichts zu tun, sondern vielmehr, glaube ich, mit Nüchternheit, wenigstens im Kopf. Gleichzeitig, ich gebe es zu, rebelliert das Herz. Womit ich wiederum sagen muss: ich akzeptiere meinen inneren Werter, der tief in mir sitzt und meine Ratio herausfordert und manchmal fast zur Verzweiflung bringt. Ich hoffe, dass beide sich dereinst etwas besser verstehen werden. An eine Versöhnung der beiden Kontrahenten glaube ich freilich nicht.

Ja, tu me dois rien...

Samstag, 8. Mai 2010

Sich in passende Kerle verlieben...

In ihrem Kommentar zu meinem Beitrag "Liebe" schreibt Mayarosa folgendes:

Ich bin Ende 30, habe den Mann meines Lebens bisher nicht gefunden und mache mir ebenfalls Gedanken darüber, warum das so ist, was ich ändern muss, und so weiter.Du beschreibst sehr schön das Gefühl, das einen plötzlich elektrisiert. Die Besonderheit der Begegnung. Nur frage ich mich: Elektrisiere ich immer bei den Falschen? Nach welchen Mustern spielen meine Hormone verrückt? Was muss ich ändern, damit ich mich in passendere Kerle verliebe? Ich weiß ja nicht, wie es euch geht. Bei mir wiederholen sich Muster. Die möchte ich gerne durchbrechen, in der Hoffnung, mich dann in jemanden zu verlieben, mit dem ich glücklich werden kann.

Dieses "Elektrisieren" und die damit einhergehenden Tänze der Hormone ist Ausdruck von Begierde und Verlangen, vielleicht auch von Verliebtheit. Jedenfalls macht sich ein akutes oder schleichendes Bedürfnis bemerkbar, jene Person, die so elektrisierend auf uns wirkt, näher -womöglich ganz nah- kennen zu lernen. Das ist das eine, schöne Gefühl. Aber dies ist noch keine Garantie für eine dauerhafte Beziehung. Nun weiss ich nicht, was Mayarosa für Muster meint, die sich wiederholen und die sie, folgerichtig, durchbrechen will. Offenbar verliebt sie sich stets in die "falschen Kerle". Offenbar gibt es da eine Konstante, die "falschen Kerle" gleichen sich (nicht primär äusserlich gemeint, aber vom Typus her, vom Charakter und von dem, was sie repräsentieren bzw. glauben zu repräsentieren). Das wäre wohl der erste Ansatz, zu erkennen, worum es sich da genau handelt.

Letztlich muss man aber scheitern, läuft man der Liebe hinterher - ich weiss aus eigener Erfahrung, wovon ich hier spreche. Die Liebe wird Dich überraschen, das kann noch heute passieren, irgendwo und irgendwann, und sie wird Dich regelrecht durchschütteln. Wenn Du jenem Mann begegnest, der bei Dir die Hormone hochtanzen lässt, ist das schon mal gut und schön und berauschend, oh ja! Wenn darüber hinaus jener Mann -jetzt im übertragenen Sinn gesprochen- Deine Melodie harmonisch aufnimmt und fortführt, wenn er Dich regelrecht spürt, auch wenn Du nicht bei ihm bist, wenn umgekehrt Du diesen Mann spürst, auch wenn er nicht physisch präsent bist, wenn Dich die Sehnsucht packt und fast verrückt macht, wenn sich, pathetisch gesprochen, aber durchaus ernst gemeint, Eure Seelen begegnen, auf dass Ihr glaubt, Ihr hättet Euch doch schon lange zuvor bereits gesehen und gespürt, dann, Mayarosa, hast Du jenen Mann gefunden, nein, vor-gefunden, der irgendwo auf dieser Welt existiert und auch Dir -nur Dir- begegnen muss, er weiss noch nichts von seinem Glück, so wenig wie Du heute von Deinem Glück weisst, aber dieses Glück wird sich einstellen, und zwar dann, wenn es sein muss, nenne es Fügung, Schicksal, wie auch immer. Dies wünsche ich Dir, dass Du Deinem Seelenverwandten begegnest, wo auch immer er sein mag und in welcher Lebenssituation er auch immer sein mag. Ich glaube daran, dass zusammen kommen muss, was zusammen gehört. Natürlich, Komplikationen sind dabei nicht ausgeschlossen, es mögen Sachzwänge da sein und weiteres mehr, die Eurem Glück im Weg stehen. Das Leben geht oftmals seltsame Wege, die nicht immer zu durchschauen sind. Aber der Fluss des Lebens lässt sich nicht zähmen, er bahnt sich seinen Weg. Spüre ihm nach.

Freitag, 7. Mai 2010

Dialog mit Werther

Gestern Abend habe ich mir jene Bücher angeschaut, die ich als junger Mensch gelesen habe. Im Regal bleibe ich bei den Leiden des jungen Werther stehen. Das kleine gelbe Heftchen aus dem Reclam-Verlag ist etwas vergilbt und da und dort mit Kaffee- und Rotweinflecken versehen. Ich blättere es durch, schaue mir meine damaligen Randnotizen an, die ich als Gymnasiast angebracht hatte. Ich war - hatte ich es verdrängt? - vom jungen Werther begeistert. Seine Radikalität muss mir gefallen haben, seine Kompromisslosigkeit auch. Ich muss mit ihm gelitten haben, die von mir damals angestrichenen Passagen, versehen mit Ausrufezeichen und Kommentaren wie "ja genau, so ist es!", zeigen es mir deutlich. Gleichzeitig sehe ich auch skeptische Bemerkungen, "Distanz verloren!" und ähnliches.

Werther ist Teil von mir geblieben. Ich habe ihn aber im Verlaufe meines Lebens zu bändigen vermocht, zeitweise hat er tief geschlafen in mir. Aber er ist trotzdem schlummernd da und klopft nun wieder an die Tür, gerade in der letzten Zeit muss er besonders hartnäckig sein. Der Wille, ihn den Zutritt zu meinem Leben gänzlich zu verwehren, ist da, es gelingt mir aber nicht, ihn gänzlich vor die Tür zu schmeissen. Ich sage ihm deutlich, Mensch, Werther, komm auf den Boden der Realität zurück! Er gelobt, etwas mehr Nüchternheit an den Tag zu legen. Ich lobe ihn dafür, was ihn auch beruhigt.

Aber ich ahne schon: Werther wird wohl nie ganz in sich ruhen können. Seine Rastlosigkeit ging mir zwar auch auf die Nerven, meine damaligen Notizen beweisen es, dass ich ihn schon vor über 25 Jahren dafür tadeln musste. Aber er war mir eben auch sympathisch, weil ich ihn in seiner Gefühlswelt verstehen konnte. Vermutlich werde ich mit ihm mein Leben teilen müssen, ich werde ihn aber immer wieder tadeln und disziplinieren, ich werde ihn aber auch bei der Hand nehmen und ihm ins Ohr flüstern: ist ja schon gut.

Dienstag, 4. Mai 2010

Liebe?

Anna und autum sinnieren in ihren Blogs über Liebe und Abhängigkeiten. Letztlich geht es um die zentrale Frage, ob ich eine Person aus narzisstisch-defizitären Gründen oder aus freien Stücken liebe, frei von inneren Defiziten, Projektionen oder Idealisierungen, frei von Besitzansprüchen und Abhängigkeiten.

Wie erkenne ich nun, ob ich einen Menschen wirklich liebe? 'Wirklich' in dem Sinne, dass ich nicht aus egoistisch-defizitären Gründen den betreffenden Menschen liebe, sondern aus einem gewissermassen 'autonomen' Gefühl heraus? Ist dies überhaupt 'ergründbar', mithin 'messbar' im wissenschaftlichen Sinn?

Wenn ich einem Menschen begegne und dabei das Herz zu pochen beginnt, die Hände feucht werden und dergleichen mehr (physische Reaktionen), dann kann dies ein Zeichen von Verliebtheit sein und/oder von Begierde. Wenn bei dieser Begegnung darüber hinaus der eine erahnt, was sein Gegenüber denkt und fühlt, wenn dieses Gegenüber eine Melodie anstimmt und ich diese aufnehme und harmonisch weiterführe, wenn, ganz im Sinne Rilkes, die Gedanken- und Gefühlswelten sich ganz nahe kommen, wenn ich buchstäblich all seine Wünsche von den Augen ablesen kann, und wenn sich dann, folgerichtig, nach schon kurzer Zeit ein mächtiges Gefühl des Vertrauten einstellt, das uns umhüllt und uns nicht mehr los lässt, dann muss dies eine aussergewöhnliche Begegnung sein, die ich mir nicht 'aussuchen' kann. Sie stellt sich plötzlich, mithin aus dem Nichts, ein. Sie ist vor allem etwas Vor-Gefundenes, etwas, was sich meiner Kontrolle und meinem Willen entzieht, etwas, was ich nicht konstruieren und bestellen kann. Sie ist, anders gesprochen, ein Geschenk, vielleicht ein Akt der Gnade.

Die Liebe verträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. So heisst es, ganz radikal, im ersten Brief an die Korinther, Kapitel 13, in der Übersetzung Luthers (als Agnostiker kann ich ohne Hemmungen die Bibel zitieren). Diese schlichten Sätze sagen im Grunde der Dinge alles, was es zu diesem Thema zu sagen gibt. Wenn ich tatsächlich so weit bin, einen Menschen so selbstlos und so tief zu lieben, liebe ich ihn aus freien Stücken und mit meinem ganzen Herzen, frei von inneren Zwängen, Projektionen und Egoismen.

Sonntag, 2. Mai 2010

Im Mai

Im wunderschönen Monat Mai,
Als alle Knospen sprangen,
Da ist in meinem Herzen
Die Liebe aufgegangen.

Im wunderschönen Monat Mai,
Als alle Vögel sangen,
Da hab' ich ihr gestanden
Mein Sehnen und Verlangen.

Heinrich Heine

Samstag, 1. Mai 2010

Von der Vernunft und dem kindlichen Ich

Grau und kühl ist es heute Abend
eingehüllt in einer Decke sitze ich auf dem Balkon
blicke auf die Stadt
und höre dem Regen zu
vor nicht allzu langer Zeit
dachte ich mir
dass es doch irgendwo auf dieser Welt
einen Menschen geben muss
mit dem man sich verbunden fühlt
wo immer dieser Mensch auch sein mag
die berühmte Nadel im Heuhaufen
was riet mir damals mein Umfeld
loslassen
Vertrauen haben
dem Leben Recht geben
und nun weiss ich
dass es diesen Menschen in der Tat gibt
er wohnt zwar nicht um die Ecke
das wäre wohl zuviel vom Leben verlangt
aber es gibt ihn
Ich sitze auf dem Balkon
eingehüllt in einer Decke
nach Wärme suchend
jener Mensch ist nicht da
physisch nicht da
und trotzdem ist er da
ich glaube ihn zu spüren
räumliche Distanz hin oder her
komplizierte Umstände hin oder her
Sachzwänge hin oder her
feiner Regen fällt
ansonsten Stille
ein Gefühl von Dankbarkeit stellt sich ein
Melancholie macht sich breit
die Züge sind jetzt gut zu hören
wegen der Windlage
Die Phantasie sagt mir
aufstehen
den nächsten Zug nehmen
ich mag mein kindliches Ich
weil es immer wieder rebelliert
gegen die sogenannte Vernunft
gegen Sachzwänge
es zwingt mich zu einem inneren Dialog
und lässt mich hoffen
hüpfen
lachen
zuversichtlich sein