In ihrem Alter führt man keine Agenda mehr, man hat keine Zukunftsprojekte, man lebt mehr oder weniger von einem Tag zum anderen. Wie verbringt meine Mutter ihren Alltag? Ich würde sagen: recht strukturiert, mit fest eingebauten Ritualen (Kaffee trinken in der Confiserie um 0900, einkaufen in der Stadt, gegen halb elf nach Hause gehen, etwas Kleines essen, nachmittags zu Hause ausruhen, fernsehen, spazieren, vielleicht ein kurzer Spaziergang zum Friedhof, nach Hause gehen, etwas Kleines essen, schlafen). Einmal in der Woche ist sie einen Nachmittag lang mit meiner Tochter unterwegs - das ist jeweils ihr Highlight der Woche.
Ist meine Mutter einsam? Manchmal, sagt sie mir. Aber sie findet Trost in ihrem Glauben (sie ist katholisch), immerhin. Ich bohre nach: was heisst für dich Einsamkeit? Sie überlegt, dann: es fehle ihr halt schon manchmal ein Mensch, der zuhöre, der mit ihr esse, mit dem man sich austauschen kann. Also Freundschaft, oder, ich übersetze es in meinen Worten: es fehlt ihr die Hand, die man halten kann, streicheln kann, die Schulter, an die man sich anlehnen kann. Sie hat zwar ihre Freundinnen, aber diese Beziehungen bleiben Kaffee-und-Kuchen-Beziehungen, das heisst, Beziehungen letztlich ohne Vertrautheit. Sie beklagt sich auch über ihre Vergesslichkeit, weiss plötzlich nicht mehr, wo sie ihre Wohnungsschlüssel hat, was sie vorgestern gemacht hat oder ob sie nun am Mittwoch oder Donnerstag zum Kaffee eingeladen ist. Und sie hat oftmals Angst. Es ist eine diffuse Angst, eine Angst ohne erkennbares Gesicht, eine Angst, die sie nicht näher beschreiben kann.
Genau diese Aspekte sind es, die mich manchmal erschaudern lassen, wenn ich über das Alter nachdenke: älter zu werden ohne Boden unter den Füssen zu haben, ohne emotional abgesichertes Koordinatennetz mit dem Gefühl der absoluten Leere, einer Spinne gleich, die sich fallen lässt und nur noch den freien Fall erlebt. Und dann überlege ich mir, wo ich wohl mit 86 sein werde (falls ich überhaupt dieses Alter erreiche), wie meine Lebenssituation dannzumal aussehen wird. Ich weiss: solche Gedankenspiele sind Mumpitz, ich habe im Hier und Jetzt zu leben. Aber wenn ich die Zeit wahrnehme, spüre ich wieder -als Metapher- diesen verfluchten Zug, der mit IC-Geschwindigkeit durch die Gegend braust und mir sagen will: das Leben ist kurz, mach was draus und erkenne die Möglichkeiten des Lebens. Ich wüsste sehr wohl, was mir gut täte, aber ob es sich realisieren lässt, weiss ich nicht, und dieses Nichtwissen ertrage ich nicht immer mit derselben Gelassenheit.
Ich werde also morgen mit meiner alten Mutter tafeln gehen und den Moment geniessen. Ich werde mich ihrer Welt stellen und genau zuhören. Und ich werde ihr erzählen, dass es mir eigentlich ganz gut geht, dass mein Herz genau weiss, was es will und was es sich wünscht. Und wenn meine Mutter bei irgend einem Heiligen für mich beten oder in der Kirche eine Kerze anzünden will, auf dass meine Wünsche in Erfüllung gehen mögen: ich werde, selbst als Protestant, nicht dagegen protestieren.
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