Dienstag, 12. November 2013

Von der tickenden Uhr

Spätnachmittags hatte ich wie angeschossen das Bedürfnis, zum Grab meines Vaters zu gehen. Ich war schon lange nicht mehr dort. 6 Monate, 9 Monate? Ich weiss es nicht, da Gräber mir an sich nichts bedeuten und ich Tote nicht auf dem Friedhof vermute. Aber heute musste ich, einer inneren Stimme gehorchend, diesen Ort aufzusuchen. Nachdem meine Tochter von der Schule nach Hause gekommen war, brachen wir mit dem Fahrrad auf: 10 Minuten, und wir waren dort. Sonnenuntergang, herbstliche Farben überall, da und dort Besucher auf Bänken und vor mir Amseln, die sich gegenseitig jagen auf der Suche nach Nahrung. Beim Grab zündet meine Tochter die Kerze an und freut sich, da zu sein und ihren Grossvater zu besuchen. Und ich schaue mich weiter um, laufe etwas herum, betrachte die Gräber, gestorben 2010, 2011, dort 1998, geboren 1923, 1945, dort 1958. Es wird so viel gestorben. Und ich stellte mir vor, dass ich, als Mensch (aber nicht als Vater) ganz ruhig bliebe, wenn ich dort, in jenem Augenblick, definitiv abgelegen wäre. Ich würde einfach einschlafen und Teil dieser Gemeinschaft werden, deren Mitglied wir ohnehin eines Tages alle sein werden, nur tun wir so, als ginge uns dies alles nichts an: die Toten, das sind die anderen. Beim Eindunkeln begann ich zu frösteln, ein Moment der Ergriffenheit nahm mich ein: wann werde auch ich da liegen? Bis dato lebe ich, wie wir alle leben wollen, mit unseren Sehnsüchten und Unzulänglichkeiten, unseren Freuden und Illusionen, stets den Tod verdrängend und das ewig dauernde Leben vor dem Auge und hoffend, dass uns dies alles nichts angehe. Nichts. Ich habe keine Sehnsucht nach dem Tod, ich habe Sehnsucht nach dem Leben, das mit jedem Tag dem Tod immer näher kommt. Immer näher. Die tickende und nicht ablegbare Uhr, ich höre sie. 

2 Kommentare:

  1. Makaber hierzu, und doch fällt es mir ein, das von jandl:
    sommerlied

    wir sind die menschen auf den wiesen
    bald sind wir die menschen unter den wiesen
    und werden wiesen, und werden wald
    das wird ein heiterer landaufenthalt

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