Montag, 19. November 2012

Von der Sehnsucht (einmal mehr)


Gehst Du mit Herrn Schnitzler darin einig? Dass die Seele nur die Sehnsucht nährt und nicht ihre Erfüllung? Ist es für Dich nicht vorstellbar, dass eine erfüllte Seele sich selbst Nahrung sein kann und aus einer eigenen göttlichen Quelle schöpfen?

Ich denke nicht, dass eine Seele sich selbst Nahrung sein kann. Wenn dem so wäre, hätten wir so etwas wie ein Perpetuum mobile vorgefunden, also etwas, das, einmal in Gang gesetzt, ewig in Bewegung ist, ohne dass weitere Energie notwendig wäre, diese Bewegung aufrecht zu erhalten. Nein, daran glaube ich definitiv nicht. Die Seele braucht vielmehr einen Resonanzraum, auf den sie sich stets beziehen kann und beziehen muss. Dabei spielt die Sehnsucht -nicht jene nach einer bestimmen Person, einer bestimmten Landschaft usw., sondern jene des nicht Aussprechbaren, das sich letztlich jeder Definition und damit jeder Form entzieht- eine wesentliche Rolle: wir wollen uns ihr annähern, und doch werden wir sie nie gänzlich erreichen. Wir können, immerhin, für einen kleinen Moment erahnen, wie sie beschaffen ist, und kommen dann und wann gar mit ihr in engem Kontakt. Und ehe wir sie einzufangen versuchen, verlässt sie uns wieder. Sie streichelt sanft die Seele und verlässt sie gleich wieder, einem Singvogel gleich, der uns frühmorgens mit seinem Gesang erfreut und sich bald darauf wieder aus dem Staub macht: der Vogel will seine Freiheit.

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